Digitale Minimalisten

Eins oder Null, welch einen Unterschied das machen kann, hat Bayer Leverkusen jetzt in zwei Auswärtsspielen innerhalb von vier Tagen eindrucksvoll bewiesen. Gegen die überhitzten Duracell-Häschen aus Lüdenscheid waren sie gallig, in San Sebastian abgebrüht. Leverkusen beherrscht nicht nur den gepflegten Offensivwirbel, sondern hat auch die Entschlossenheit, ein dreckiges 1-0 zu machen, wenn es sein muss. Und es ist kein Zufall, dass ein Abwehrspieler, Toprak, das Tor für das Achtelfinale gemacht hat. Ein Malocher, ein Abräumer, ein Defensiver. Auch das zeichnet große Mannschaften aus. Puyol 2010 im Halbfinale, als die DFB-Elf ziemlich lange ziemlich gut verteidigt hatte. Oder 1998 Laurent Blanc gegen Paraguay im Achtelfinale mit dem Golden Goal. Reingehämmert, -gewürgt, -gebolzt irgendwie. Spanien und Frankreich konnten auch anders damals, und Leverkusen ist spielerisch noch nicht am Limit. Sie haben kein Genie mehr wie Emerson, keinen Grandseigneur wie Ze Roberto und keine technisch versierte Kampfmaschine wie Lucio in ihren Reihen, sie wachsen und entwickeln sich gemeinsam, ganz still und leise unter Anleitung des klugen Sami Hyypiä.

Obwohl die mannschaftliche Geschlossenheit die große Stärke ist, möchte ich Simon Rolfes ausdrücklich herausgeheben. Er spielt die beste Saison seiner Laufbahn und ist nicht nur nominell der Mannschaftskapitän, sondern das heimliche Kraftzentrum in dieser Hinserie. Notendurchschnitt 2,92, dazu zwei Tore in der Liga und drei in der Champions League. Das ist zahlenmäßig nicht viel, aber es waren entscheidende Tore, die der Mannschaft die Möglichkeit verschafften, sich das Spiel anzueignen und zu gewinnen. Gegen Hannover das 1-0, gegen Augsburg das 1-1, gegen San Sebastian im Hinspiel das 1-0 mit dem Halbzeitpfiff, gegen Donezk den Elfmeter zum 2-0. Dass die Mannschaft sein 1-1 in Manchester nicht besser nutzen konnte, lag nicht an ihm. Selbst beim desaströsen 0-5 gegen Manchester hatte Rolfes die Note 3,0 im kicker. Er ist stabil, aggressiv, findet fast immer eine spielerische Lösung und für einen defensiven Mittelfeldspieler torgefährlich genug, um unberechnbar zu sein.

Dass man Rolfes nach dem Ausfall von Khedira öffentlich nicht einmal in Erwägung gezogen hat, zeigt, dass Bundestrainer Löw kein Problem mit Kießling, sondern mit Leverkusen hat. Auch Leno, der im Gegensatz zu ter Stegen, Adler und Zieler CL spielt, bekommt viel zu wenig Anerkennung für seine konstant überragenden Leistungen. In der Bundesliga hat er einen Notenschnitt von 2,53 und ist damit notenbester Torwart (Weidenfeller 2,68, Neuer 3,03). In der CL steht Leno bei 2,60 (Neuer 2,50, Weidenfeller 3,25). Rolfes würde diesem mit Schönspielern überreichlich gut besetzten DFB-Kader gut zu Gesicht stehen. Die Özil, Götze und Reus brauchen Leute, die ihnen den Rücken freihalten, die auch mal einen nach klassischer Manier reinwürgen, wenn die Ästheten vorne wieder mal in Schönheit ausscheiden. Ein guter Sechser ist er nebenbei auch.

Saisonvorschau: Schöner lauern – Leverkusen und Schalke

Obwohl es in der letzten Saison nicht einmal für Vizekusen reichte, hat sich Leverkusen  heimlich still und leise zu einem bärenstarken Konkurrenten entwickelt. Ohne größeren Wackler spielte man sich in die direkte Teilnahme zur Champions League und brachte den Bayern die einzige Saisonniederlage bei. Son für Schürrle macht die Mannschaft noch konterstärker, Kießling ist in der Form seines Lebens. Nachdem bei Gomez der Bayern-Bonus weg ist, dürfte der Ex-Clubberer eine echte Chance bei Joachim Löw bekommen. Auch wenn hier ein Megasponsor den Rücken frei hält, ist Leverkusen mehr ein Freiburg de luxe – der Star ist die Mannschaft. Selbst Spitzenkönner wie Rolfes oder Leno ragen aus dem Team nicht heraus. Bei Bayer stimmt die Chemie. Und weil sie davon reichlich haben, sind spontane Mutationen auch keine Überraschung. Leverkusen scheint unter Hyppiä körpereigene Siegergene zu entwickeln. Könnte sein, dass es damit auch für ganz oben reicht.

Auch Schalke hat sich stabilisiert. Die Verpflichtung von Szalai kann ein ähnlicher Glücksgriff werden wie die von Mandzukic für die Bayern. Außerdem geht Königblau nach zwei Saisons mit permanentem Torwart-Drama mit einer klaren Nummer Eins in die Saison. Dass sie sich noch zieren, mit Hildebrand zu verlängern, weil sie zwei sehr gute Nachwuchskräfte in der Hinterhand haben, ist verständlich. Aber es ist richtig, den erfahrensten zur Nummer Eins zu machen. Hildebrand ist nicht nur international eine ganz andere Nummer, er kann auch eine Abwehr dirigieren. Der ungeliebte Jens Keller hat sich mittlerweile ein kleines Vertrauenspolster erarbeitet und erdet den Schalker Überschwang auf verschmitzte Weise. Wer auf Schalke Trainer ist, muss verstehen, dass diese Fans ihre Mannschaft mehr lieben als alle anderen in Deutschland ihren jeweiligen Verein. Dass 100000 zum Abschiedsspiel von Raul kommen, ist mit ruhrpöttischer Herzlichkeit nicht mehr zu erklären, das geht mehr in die Richtung Maradona und Neapel. Raul wurde ja nicht vorgestellt, sondern verabschiedet. Magath und Heynckes waren von dieser Zuneigung überfordert, Keller hat sie begriffen, ohne deswegen zum Populisten zu werden. Schalke als Meister, das ist noch peinlicher als Prognose als Leverkusen als Meister, aber die ersten vier können im nächsten Mai auch in umgekehrter Reihenfolge oben stehen. 25 Punkte sind Schnee von gestern.

Manuel Neuer, das Problem Nummer Eins

Am Samstag gegen Nürnberg hat er mal wieder spielentscheidend gepatzt, Manuel Neuer, der vermeintlich beste Torwart seiner Generation. Klar, Feulners Schuß hatte Effet, aber das kommt gelegentlich vor, sogar bei Gegnern, bei denen die Bayern drei Punkte fest eingebucht haben. Der Katastrophenfehler, der Thomas Kraft im April 2011 im Spiel in Nürnberg unterlief, als er von Christian Eigler gleichfalls zum 1-1-Endstand übertölpelt wurde, kostete den jungen Torhüter den Stammplatz und seinen Trainer Louis van Gaal den Job. Neuer wird Feulners Flatterball nichts kosten, genauso wenig wie die beiden kapitalen Böcke gegen Gladbach in seiner Gurkensaison 2011/12. Wer 25 Millionen Euro gekostet hat und von Kim Il McRummenigge mit öffentlichen Liebesbekundungen bedacht wird, steht über aller Kritik. Außerdem wollte vor dem Juni 2012 niemand den wie selbstverständlich anvisierten EM-Titel gefährden, indem er die Nummer Eins der Nationalmannschaft in Frage stellte.

Neuer hat zweifellos überragende Fähigkeiten, bei den Bayern aber ruft er sie aber viel zu selten ab. Seine Leistungskurve geht nach unten, seit er von Schalke weg ist. Dort hatte er beim kicker als Saisonnoten 2,61 (2006/07), 3,10 (2007/08), 2,91 (2008/09), 2,90 (2009/10) und 2,79 (2010/11). In der ersten Saison bei Bayern landete Neuer mit 3,13 auf Platz 16 im Torhüter-Ranking, sogar die bei Bayern ausgebooteten Michael Rensing (Köln) und Kraft (Hertha) standen vor ihm.

In der laufenden Saison hat Neuer die Note 3,00. Vor ihm stehen unter anderem Oliver Baumann (Freiburg), Raphael Schäfer (Nürnberg), der beim DFB ohne Hausmacht agierende Roman Weidenfeller (Dortmund) – und René Adler vom HSV, mit 2,17 auf Platz 2 hinter dem Überflieger Kevin Trapp (Frankfurt). Adlers eindrucksvolles Comeback zeigt, was es bewirken kann, wenn ein Torhüter Leistungsträger ist. Der HSV mit seiner angezählten sportlichen Leitung Frank Arnesen/Thorsten Fink wurde vor Saisonbeginn als Abstiegskandidat Nummer Eins gehandelt. Falls es einen einzelnen Spieler gibt, dem der Liga-Dino sein Sechs-Punkte-Pölsterchen zum Relegationsplatz verdankt, dann ist das Adler. Seit er beim HSV ist, wird die Mannschaft schrittweise besser. Bei Neuer ist man seit seinem Premierenpatzer gegen Igor de Camargo froh, wenn er nicht negativ auffällt. Neuer ohne Chance, so der Minimalkonsens, wenn es mal klingelt.

Ein einziges Spiel hat er den Bayern gerettet, das war das zweite Halbfinale in der Champions League gegen Madrid. Es folgten Rummenigges Elogen. Daniel Klewer hat dem Club gleich zweimal ein Elfmeterschießen gewonnen, im Achtelfinale gegen Unterhaching und im  Viertelfinale gegen Hannover, auf dem Weg zum Pokalsieg 2007. Ist er deswegen eine Kultfigur beim Club? Selbstverständlich. Aber der letzte Weltklassetorwart in der Noris war Andy Köpke. Klewer hat seinen Job gemacht, genau wie die vielen Amateurtorhüter, die auch schon mal ein Elfmeterschießen entschieden haben, vielleicht sogar gegen einen großen Verein. Klewer hat am Ende einen Titel geholt, Neuer nicht.

Neuer hätte zum Beispiel den Kopfball von Didier Drogba halten können, der das 1-1 im Champions League Endspiel 2012 bedeutete. Eigentlich unhaltbar, gewiss. Aber 2006 in der Verlängerung des WM-Endspiels entschärfte Gigi Buffon ein ähnliches Kaliber von Meister Zidane persönlich, ehe dieser dann mit einem weiteren Kopfstoß den vielen Gründen für seine Unsterblichkeit einen neuen hinzufügte. Der kicker schreibt: „Sekunden darauf hatte Zidane nach Sagnols butterweicher Flanke die Riesenkopfball-Chance, doch Buffon ließ den französischen Torschrei mit einem Superreflex verstummen.“ Diese Parade, nicht das anschließende Elfmeterschießen stellte Buffons Extraklasse unter Beweis. Auch Neuer hätte einen unhaltbaren Kopfball halten können, hat er aber nicht. Dafür hat er sich im Pokalendspiel 2012 gegen Dortmund von Lewandowski tunneln und einige Wochen zuvor im entscheidenden Bundesligaspiel vom gleichen Spieler mit einem Hackentrick übertölpeln lassen.  Klar, die Feldspieler der Bayern standen in allen drei Situationen neben sich, aber das war beim HSV zwei Jahre lang nicht anders – bis Adler kam.

Rufen wir uns die Voraussetzungen für Neuers kometenhaften Aufsteig noch einmal ins Gedächtnis. Nach der WM 2006 war Jens Lehmann die alleinige Nummer Eins im Tor der DFB-Elf. Als legitimer Kronprinz galt Timo Hildebrand, der seine Ansprüche mit der Meisterschaft im Tor des VfB Stuttgart 2007 unterstrich und danach mit dem Abstecher nach Valencia seine Karriere erst einmal gegen den Baum fuhr. 2008 beendete Lehmann seine Karriere im DFB-Team, Robert Enke und René Adler kämpften fortan um Platz Eins. Im November 2009 nahm sich Enke das Leben. Ein halbes Jahr später erlitt Adler einen Rippenbruch. Mit der Erfahrung von drei Halbzeiten in der A-Mannschaft wurde Neuer Stammtorhüter für die WM 2010. Er erledigte diese Herausforderung einerseits mit Bravour, andererseits mit der Diskretion eines Novizen. Den Kopfball von Puyol im Halbfinale 2010 muss man auch nicht halten, darf man aber. So wie Iker Casillas das gegen Arjen Robben im Endspiel irgendwie hingezwirbelt hat.

Im Halbfinale gegen Italien 2012 wurde Neuer wie auch im Verein Opfer seiner Vorderleute, so zumindest die offizielle Version. Ich finde, wenigstens Balotellis Kopfball zum 1-0 hätte er wegfausten müssen, anstatt auf der Linie zu kleben. Muss er eben Badstuber umnieten. Oder Balotelli und Badstuber. Das 2-0 hätten zugegebenermaßen weder Buffon noch Adler noch Köpke noch Casillas gehalten.

Die Bundesliga bringt in jeder Saison mindestens einen überdurchschnittlichen jungen Torhüter hervor: Ron-Robert Zieler, Marc-André ter Stegen, Bernd Leno. Mittlerweile herrscht, anders als im Mai 2010 kein Mangel. All diese Torhüter zerreißen sich auf dem Platz für ihre Mannschaft, auch wenn sie in der nächsten Woche vielleicht ihren Vertrag brechen. Neuer wirkt immer so, als spielte er für sich allein. Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn er weiter patzt, Adler weiter punktet und der wieder genesene und bei Schalke gut gestartete Hildebrand die internationale Bühne nutzen kann. Das Leistungsprinzip sollte beim DFB nicht nur dann angerufen werden, wenn es darum geht, verdiente Spieler abzuschieben. Wie wäre es mit einem ergebnisoffenen Wettbewerb zwischen Torwart 1a und Torwart 1b? Das hat doch 2006 sehr gut funktioniert.

Vielleicht hat ja Matthias Sammer ein Einsehen mit Neuer und verkauft ihn und Mario Gomez gleich mit. Sammer hat die beiden 25-Millionen-Einkäufe, die ständig besser gemacht werden, als sie spielen, nicht zu verantworten. Neuer hhätte anderswo die Chance, ein ganz Großer zu werden. Oder einfach nur besser als in den letzten 17 Monaten.