Ein Fest aus Schlamm und Feuern

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Zum festen Bestand im Schatzkästlein des Fränkischen Ballfreundes gehören die drei Bücher von Kurt Lavall Die deutsche Bundesliga 1974/75, 1975/76 und 1976/77. Die bei Arena erschienenen Bände wurden vom Verlag in Plastik eingebunden, damit man auch an einem regnerischen Novembertag auf der nicht überdachten Gegengeraden kurz mal nachschlagen konnte, wie oft denn der Wuppertaler SV Westmeister war (1x, 1972, in der Regionalliga). Die Unterüberschrift lautete: Das aktuelle Fußballjahrbuch. Dokumentiert wurde jedoch immer die Vorsaison, also im ersten Büchlein 1973/74. In jener Saison waren fünf Mannschaften aus dem Ruhrgebiet erstklassig: Schalke (mit kehligem k), Rot-Weiß Essen (mit Willi „Ente“ Lippens), Bochum (mit kurzem Gerland-o), Duisburg (mit ui) und der spätere Absteiger Wuppertal (weltberühmt aus Wim Wenders‘ Alice in den Städten). Aus NRW waren ferner dabei: Gladbach, der Effzeh, die kleine Fortuna aus Köln-Süd, die ebenfalls abstieg, und die rechtsrheinische Fortuna aus Dingsda. Die Bundesliga erlebte ihre Zeit der tausend Derbys, die sich in der Zeit von Oktober bis März am Radio immer besonders roteerdig, schlammig und umkämpft anhörten. Im Ruhrpott gab es Kampfbahnen. Eine Grotenburg-Kampfbahn würde auch gut zu Game of Thrones passen: Staffel 8 – Die Erben von Grotenburg. Heute sind mit Schalke und dem BVB noch zwei Vereine aus dem Pott in der Bundesliga, beide haben eine Arena, und der eine spielt Hallenfußball, wenn es ein bißchen regnet. Alles Pussys heutzutage. Damals hat man seinen eigenen Strafraum noch leergetrunken.

MSV Duisburg – VfL Bochum

Eines dieser alten traditonsreichen Duelle tief im Westen, MSV Duisburg – VfL Bochum, endete am Samstag in der Zweiten Liga taufrisch mit 1-1. Der kicker gab als Spielnote eine 2,5 und notierte: „muntere Partie, in der beide Mannschaften auf Sieg spielten“. Ein Anlass, ein wenig bei Kurt Lavall zu blättern. 1973/74 machten Dieter Versen, Michael „Ata“ Lameck und Werner Balte alle 34 Spiele für den VfL, Torwart Dietmar Linders und Detlef Pirsig für den MSV. Ein Hermann Gerland von 20 Lenzen kam bei den Blauen auf 13 Einsätze, der ein Jahr ältere Ronald „Ronnie“ Worm bei den Zebras auf stolze 28. Mit 97 Toren schossen VfL und MSV zusammen fünf Tore mehr als Vizemeister Gladbach (92). Der VfL hatte hier mit 45 Toren die Nase vorn, auch in der Tabelle stand Bochum auf 14 einen Platz vor Duisburg. Über die Saison der Blauen von der Castroper Straße notierte Lavall: „Das Zittern dauerte lange, bis endgültig feststand, das Punktekonto reicht.“ Es war die Zeit, als Bochum noch unabsteigbar war. Der Trainer hieß Heinz Höher, der Kapitän hieß Spielführer. Dieses Amt hatte Stürmer Hans Walitza inne, der im Sommer 1974 für sage und schreibe 600.000 DM (damals etwa 222 Millionen Euro) an den 1. FC Nürnberg verkauft wurde. Der Club tummelte sich in der Südsektion der neu gegründeten zweigleisigen 2. Liga. 1978 legte Walitza, der von Schwarz-Weiß Essen zu Bochum gekommen war, mit seinem Auswärtstor in der Relegation gegen Rot-Weiß Essen den Grundstein für den Aufstieg der Clubberer. In Franken betont man den Namen auf der ersten Silbe wie Eisenbahn, aber wahrscheinlich wird Walitza wie Marchwitza ausgesprochen, der Akzent auf der zweiten Silbe. Für den VfL erzielte er in 99 Spielen 53 Tore. Worm erzielte in 231 Spielen 71 Treffer für den MSV, ehe er zu Braunschweig ging. Über das Team von der Wedau schrieb Lavall: „Schon seit drei Jahren galten die ‚Zebras‘ als Abstiegskandidat, die sich jedoch in den entscheidenden Stunden nicht unterkriegen ließen.“ Der Trainerwechsel zu Willibert Kremer – Rudi Faßnacht war nach einem 1-3 gegen Fortuna Köln freiwillig zurückgetreten – mag zum Klassenerhalt wesentlich beigetragen haben. Einziger Spieler vom MSV in der besten Notenkategorie Römisch I bei Lavall war Bernhard Dietz.  Bei Bochum schaffte es Torwart Werner Scholz in die Spitzen-Kategorie. Die beiden Partien 1972/73 endeten in Bochum 3-0 für den VfL (2 x Balte, 1 x Walitza), in Duisburg 0-0. Insgesamt gab es die Partie 34 mal in der Bundesliga, zuletzt am 30. Spieltag im April 2008, damals auch ein 1-1.

Die erste Nachkriegsgeneration der Bundesliga

Unter anderem Lippens, Walitza und Pirsig wurden 1945 geboren. Mit dieser Generation beginnt in der Bundesliga die Nachkriegszeit. Kurt Lavall, der ab und zu auch das aktuelle sport-studio moderierte, starb 1977 und mit ihm die Reihe im knallroten Umschlag. Rudi Faßnacht starb 2000 zusammen mit seiner Frau beim Absturz der Concorde bei Paris, der gebürtige Bochumer Werner Balte, der später Jugendtrainer beim VfL war, starb 2007. Der MSV Duisburg war Gründungsmitglied der Bundesliga. 1982 stieg er zum ersten Mal ab. Insgesamt widerfuhr ihm das bis jetzt sieben Mal. Nach der um ein Haar abgewendeten Insolvenz mit Zwangsabstieg gelang ihm 2017 der Aufstieg in die Zweite Liga. Der VfL Bochum stieg 1971 in die Bundesliga auf, 1993 erwischte es die Unabsteigbaren zum ersten Mal. Mittlerweile stehen sie bei sechs Abstiegen und spielen im achten Jahr in Folge in der Zweiten Liga. In der Regionalliga West gewann Wuppertal am Sonntag 3-1 bei Rot-Weiß Essen. Glück auf!

Männer ohne Nerven

Früher, da ging es echt übel ab auf dem Reichsparteitagsgelände. Die Nazis waren an der Macht, und immerzu wurde die Volksgemeinschaft mit „Kraft durch Freude“ zusammengelockt. Am Samstag war alles ganz anders. Da holten Cohen, Simons & Co. verdient einen Punkt gegen das Festgeld Conto Bayern München, und der sportliche Erfolg stand unter dem Motto „Freude durch Kraft“. Es waren nicht die zwei verlorenen Punkte, die das Fäßchen Hoeneß zum Überlaufen brachten, sondern die einsame Entscheidung, den soliden Butt durch den flatterhaften Kraft zu ersetzen. Wäre van Gaal zu diesem Zeitpunkt nicht in Katar gewesen, wer weiß, man hätte ihn wohl schon im Winter in die Wüste geschickt. Das sympathische Jahrhunderttalent Kraft hat das FCB schon wenigstens acht Punkte gekostet – drei die Hannover gemacht hat, drei die Bayern dort nicht gemacht hat, und zwei in Nürnberg – und das war’s dann auch schon mit dem Ärachen van Gaal. Jonkers und Gerland haben jetzt die schwierige Aufgabe, ihre Männer elegant auf Platz sechs durchzuschleusen, damit sie nicht in der verhaßten Europa League enden, in der ein CL-Sieger wie Porto groß aufspielt.

Soll man sich den Club in der Europa League wünschen? Ich weiß nicht so recht. Die Mannschaft wird wieder wesentliche Spieler verlieren, selbst bei einem Abstieg von Stuttgart gibt es lukrativere Adressen für Schieber. Gündogan und ich fürchte Wollscheid könnten auch verschwinden. Soll man wegen eines Auswärtssiegs bei BATE Borisov den Klassenerhalt aufs Spiel setzen? Wenn wir mal unterstellen, dass sie aus den letzten fünf Spielen noch sieben Punkte holen (darunter einen kleinen, aber gemeinen Punkt in Dortmund), dann hätten sie fünfzig am Ende. Der gemeine Clubfan wäre sicherlich nicht traurig, wenn die Mannschaft nächste Saison elfmal statt neunmal zu Hause gewinnt, und fünfmal statt dreimal auswärts. Oder wieder schon am 25. Spieltag den Klassenerhalt sicherstellt. Diesmal wurden bereits Schalke und Stuttgart bezwungen, Köln und St. Pauli begeisternd besiegt, van Gaal wurde mit einem typischen Eigler-Tor verabschiedet. Gegen Freiburg, Gladbach, Kaiserslautern muss man es zu Hause besser machen, gegen Dortmund und Bremen darf man. Also noch viel Luft nach oben im neuen Jahr und dann am besten gleich Platz vier in 2012 anpeilen und gegen Borisov die CL-Quali schaffen. Für ein Auswärtsspiel in Barcelona kann man 2013 wieder mit dem Relegationsplatz kokettieren.

Froh und dankbar muss man sein, dass der Club mit diesem nervenzerfetzenden Abstiegskampf nichts mehr zu tun hat. Selbst Hoffenheim, die vor Wochen noch von Platz fünf sprachen, kann es noch erwischen. Es ist wie in einem Zombiefilm. Die Totgesagten wie Gladbach und Kaiserslautern kehren zurück, dem Schicksal scheinbar Entronnene wie Stuttgart und Bremen werden von den lebenden Leichen mit in den Abgrund gezogen.

Weit weg von jedem Abgrund ist das erfahrene Vizekusen, das sich auf Platz zwei behaglich eingerichtet hat und dem BVB beharrlich näher kommt. Fünf Punkte und fünf Spiele, könnte eng werden. Dieses Mal könnte Bayer sogar in München gewinnen, das FCB musste schon gegen Mainz und Dortmund Federn lassen. Der BVB hat einen Punkt in Hamburg gerettet, aber Bayer hat sein Spiel eben noch vollständig gedreht und zeigt eine erstaunliche Nervenstärke. Allen voran der immer besser werdende Kießling, der es schafft, Aggressivleader zu sein, ohne dauernd jemand seinen Ellenbogen ins Auge zu stemmen. Dortmund muss noch gegen zu allem entschlossene Bremer, brennende Gladbacher und leichtfüßige Nürnberger spielen. Mal sehen, ob den Duracell-Häschen auf den letzten Metern der Saft ausgeht. Leverkusen wirkt insgesamt reifer, obwohl keiner so ekstatisch jubelt wie die Dortmunder. Und Klopp ist in dieser Saison mehr gelaufen als das gesamte Mittelfeld von Wolfsburg.

Wenn der Postmann nicht mehr klüngelt

Das zur Zeit interessanteste Umbauprojekt in der Bundesliga findet vermutlich am Rhein statt. Der 1. FC Köln, altbewährte Skandal-, Ulk- und Mediennudel ist dabei, sich neu zu erfinden, Köln 2.0 gewissermaßen, aber keineswegs 2. FC Köln. Von Daum zu Finke, radikaler könnte die Neuausrichtung nicht sein beim obersten sportlichen Repräsentanten des Vereins. Nicht, dass Daum ein schlechter Trainer ist, aber für die stetig moussierende Kölner Seele ist der grundsolide Finke, der auch in Japan längerfristig am Werk war, die bessere Ergänzung als der Brausekopf Daum. Für den ebenfalls bodenständigen Soldo war der ganz normale Wahnsinn in Colonia Mania-Depressiva als Auftakt seiner Trainerkarriere zu schwierig. Finke ist beides, ein guter Außendarsteller und ein grundsolider Arbeiter, der ein Konzept reinbringen kann.

Fußballlehrer Schaefer kommt, wie einige andere, die später sehr erfolgreich wurden, aus dem Verein. Er wirkt nicht unbedingt so, als sei geschmeidiger Umgang mit den Medien sein Alleinstellungsmerkmal gewesen, als er gekürt wurde. Ein wenig erinnert er an Gerland, kein Wort zu viel, knorrig, sachlich, ruhig –  einer von den Typen, bei denen man sich gut vorstellen kann, dass sie in Laufkleidung auf die Welt gekommen sind und die Hebamme sagte: Es ist ein Trainer. Mit Schaefer spielt der EffCee wieder ansehnlicher, strukturierter, offensiver. Unter Soldo sah das manchmal aus wie Energie Cottbus, bevor Wollitz in die Lausitz kam. An der besseren Spielanlage ändert auch der Katastrophenkick gegen Duisburg  im Pokal nichts.

Wenn Overlord Overath es schafft, sich zurückzunehmen, dann werden sich die Kölner sehr bald aus dem Abstiegskampf verabschieden und mittelfristig eine Entwicklung wie Frankfurt (mit Bruchhagen) und Hannover (mit Schmadtke) oder Freiburg nehmen. Wenn Prinz Poldi wirklich Kapitän wird, kann das dem Neuaufbau nur gut tun. Wir sehen wir ihn dann in Zukunft als Führungsspieler in seiner neuer Rolle als Lukas, den Lokomotivführer.