Körpersprache Deutsch

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Wenn Mesut Özil wegen seiner „Körpersprache“ kritisiert wird, klingt das in meinen Ohren immer ein bißchen wie der Satz: „Lern erst mal richtig Deutsch!“. Lässigkeit im Mannschaftssport weckt Mißtrauen hierzulande, mehr noch als in England, wo Arsène Wenger seinen Mittelfeldstrategen gegen ähnliche Kritik in Schutz nimmt, aber auch zu mehr Zackigkeit auf dem Spielfeld ermuntern muss. Bernd Schuster war auch so einer, dem man es übelnahm, dass er nach 90 Minuten im November nicht aussah, als habe er gerade eine Meisterschaft im Schlammcatchen gewonnen. Heute steht Mario Götze unter Phlegma-Verdacht, genau wie früher Netzer, Möller, Bein. Der idealtypische Mittelfeldspieler ist hierzulande seit eh und je das zielstrebige Kraftpaket vom Zuschnitt eines Matthäus oder Schweinsteiger.  Nach dessen offiziellem Rücktritt ist Özil zusammen mit Thomas Müller mittlerweile der Nationalspieler mit den meisten Länderspielen (83) und hat genau so viele Tore (21) erzielt wie „Der Boss“ Helmut Rahn, der dafür allerdings nur 40 Länderspiele benötigte. Aber Özil ist ein Mittelfeldspieler, den man unter anderem auch dafür kritisiert, dass er nicht so oft trifft wie ein Stürmer. Zinédine Zidane erzielte 31 Tore in 108 Länderspielen.

Messi unter Magath? – Lieber nicht

Der gemeine Fan weiß es mehr zu schätzen, wenn ein Spieler blutend am Spielfeldrand liegt und getackert wird als wenn dieser einen tödlichen Pass aus dem Fußgelenk spielt und dabei aussieht wie frisch gefönt. Natürlich wird man mit elf Özils nichts gewinnen, aber mit elf Schweinis auch nicht, und ohne Spieler wie Özil würde die Nationalmannschaft spielen wie Energie Cottbus, handfest, rustikal, elf deutsche Tugendbolde ohne Esprit. Es gibt andere Fußballkulturen, die haben ein größeres Herz für feinsinnige Spieler, in Italien zum Beispiel sind Baggio und Pirlo Ikonen. Kein Zufall, dass Maradona beim SSC Neapel heimisch wurde und dort wie ein Heiliger verehrt wird. Man stelle sich vor, er oder Messi hätten unter Felix Magath oder Werner Lorant trainieren müssen. Aus Südamerika machen sich hierzulande eher die robusten Haudegen einen Namen, Spieler wie Dunga, Vidal, Lucio. Ein wirklich genialer Fußballer wie Emerson blieb eher wegen seiner „Kunststückchen“ als wegen seiner überragenden Spielintelligenz im Gedächtnis, er sah intellektuell aus und war nicht von hünenhafter Statur. Zidane widerum war ein Modellathlet und hatte damit sogleich ein anderes Standing. Insofern ist der Schlaks Özil bei Arsenal im Moment besser aufgehoben als in Deutschland, nach Leipzig würde er noch am ehesten passen.

Kroos, das perfekte Hybridmodell

Das 1-0 der Gunners gegen West Brom am Boxing Day war ein Arbeitssieg, Özil werkelte 90 Minuten lang mit ohne ein Raunen der Begeisterung auszulösen, aber er gab die Flanke zum Siegtor. Insgesamt spielte er bisher 1060 Pässe und liegt damit in der Premier League auf Platz 6. Das perfekte Hybridmodell für die Nationalmannschaft soll in Zukunft Toni Kroos sein. Er könnte die Sehnsucht nach alter deutscher Kernigkeit und die Notwendigkeit, modern zu spielen miteinander versöhnen. Einerseits ist er der blonde Recke für die Massen und vom kicker gerade zum Mann des Jahres gewählt worden. Er setzt seine Physis sichtbar ein, grätscht auch mal und hat eine deutlich bessere Zweikampfquote (60%) als Özil (40%), dem man ja gerade da immer Drückebergerei unterstellt. Andererseits ist Kroos auch die spielintelligente Passmaschine, ein kluger Verteilerkopf im Aufbau- und Angriffsspiel. Bei der WM 2014 war Özil 654 von 690 Minuten auf dem Platz. Auch 2018 wird er gebraucht werden, wenn es ein ahnsehnliches Turnier für Mannschaft werden soll. Hoffentlich läßt der großartige, eigenwillige Mesut Özil in der Champions League Taten sprechen gegen die Bayern. Dann wird niemand mehr an seiner Körpersprache herummäkeln.

Kimmich? – Don’t Believe The Hype

Thomas Hummel (SZ) vergleicht Joshua Kimmich nach dem 1-0 gegen Nordirland allen Ernstes mit Philipp Lahm. Christian Gödecke und Danial Montazeri (SPON) behaupten imBrustton der Überzeugung, Deutschland habe „wieder einen Rechtsverteidiger“. Auf Twitter überschlagen sich die Kommentatoren. Warum nur?

Glauben wir ausnahmsweise mal der UEFA, die in ihrer Statistik folgende Zahlen liefert. Benedikt Höwedes spielte in 195 Spielminuten 68 Pässe und hatte eine Passquote von 90 Prozent, Kimmich spielte in 93 Minuten 66 Pässe mit einer Quote von 88 Prozent. Nun könnte man meinen, Kimmich sei doppelt so aktiv gewesen wie Höwedes, allerdings beschränkte sich Kimmichs Beitrag zum Aufbauspiel in der zweiten Halbzeit darauf, Sechs-Meter-Rückpässe auf Khedira zu spielen. Und das gegen eine nordirische Mannschaft, die sich in der gesamten Spielzeit keine einzige Chance herausarbeitete. Höwedes musste sich gegen die Ukraine und Polen zweier Mannschaften erwehren, die die deutsche Defensive ständig unter Druck setzten, trotzdem hatte er gegen Polen kurz vor Schluß sogar die Chance zum (unverdienten) 1-0. Kimmichs Auftritt am Dienstag war ordentlich, aber ihn herauszuheben in einer Mannschaft, in der Özil endlich der erhoffte Taktgeber war, und alle, bis auf Hector, Neuer, Boateng und Müller besser spielten als vorher – die ersten drei so gut wie zuvor, letzterer bescheiden wie zuvor – entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Ich glaube gar nicht, dass man damit vor allem den neuen Posterboy des FC Bayern abfeiern will, gut, die FCB-Twitterer wollen vermutlich genau das. Ansonsten es ist wohl eher der dringende Wunsch an Joachim Löw, die Verjüngung der Mannschaft voran zu treiben, der aus dieser unproportionierten Lobhudelei spricht. Schweinsteigers Einwechselung gegen die Ukraine war eine gelungene emotionale Pointe, aber halt auch ein wenig Retro.

An weniger prominenter Stelle liest sich die Bewertung von Kimmich schon etwas anders. In der Einzelkritik zum Nordirland-Spiel heißt es auf SPON zu Kimmich: „Der Rechtsverteidiger ist vor allem für die Offensive ein Gewinn. Viel angriffslustiger als Benedikt Höwedes auf dieser Position, war er in zahlreiche Offensivaktionen verwickelt. Machte das gut, brachte endlich Flanken ins deutsche Spiel ein. Was er defensiv kann, das wird man an anderer Stelle sehen.“ Im Testspiel gegen die Slowakei sah man, wie Kimmich mit Haut und Haar absoff. Vom kicker bekam er dafür eine 5,5, Boateng, Hector und Rudy jeweils eine 3,5. Im CL-Hinspiel gegen Juventus versaubeutelte Kimmich die 2-0-Führung des FCB in Turin beinahe im Alleingang. Er hatte es Thomas Müllers Treffer zum 2-2 im Rückspiel zu verdanken, dass danach keiner von seinen Patzern sprach.  Gegen Gegner, die sich ein bißchen mehr zutrauen als Nordirland hat er also eine äußerst durchwachsene Bilanz. Was bei einem 21-Jährigen durchaus passiert. Vor lauter Lob überschlagen muss man sich trotzdem nicht.

Dass Thomas Müller einen Patzer von Kimmich bei dieser EM postwendend wieder ausbügelt, ist nach dem bisherigen Verlauf des Turniers nicht zu erwarten. Es ist kein Fluch, der Müller befallen hat, und kein Pech, er wirkt einfach überspielt, ausgebrannt. Der Raumsucher sucht seinen Esprit. Auch David Alaba, dem Gesicht des österreichischen Scheiterns, ist die Leichtigkeit abhanden gekommen. Müllers letzte nennenswerte Aktion in der abgelaufenen Saison war das Kopfballtor gegen Juventus.  Es wäre keine Denkmalsschändung in dieser an Denkmälern so reichen Mannschaft, wenn der Bundestrainer Müller eine Pause gönnen würde. Das nächste Hoffungsträgerlein in Gestalt von Leroy Sané steht schon bereit. Auch der kriegte in der Regenschlacht von Augsburg eine 3,5. Und er kann es über rechts.

Kroos und Özil – Zu viel Qualität auf engstem Raum

Ein Mangel, den einige bei dieser EM ausmachen, ist die geringe Torausbeute. Kantersiege in der Vorrunde sagen allerdings kaum etwas über die Qualität eines Turniers aus.  Bei der WM 1994 gewann Russland sein drittes Gruppenspiel gegen Kamerun mit 6-1, Oleg Salenko erzielte fünf Tore und wurde später (zusammen mit Hristo Stoichkov) Torschützenkönig. Allerdings war Russland nach zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen bereits ausgeschieden, als Salenko seine Ninety Minutes of Fame hatte.  In Frankreich sind die Ergebnisse meistens eng und fast alles ist offen: Von 24 Spielen endeten acht Unentschieden, neunmal gewann eine Mannschaft mit einem Tor Unterschied, fünfmal mit zwei Toren, zweimal mit drei Toren. Bis auf die Ukraine können alle Mannschaften noch weiterkommen. Das Leistungsniveau ist für viele überraschend vollkommen ausgeglichen, auch wenn Spanien und Belgien im zweiten Spiel ihre Gegner Türkei und Irland dominierten.

Polen konnte bisher seine beeindruckende Qualifikation bestätigen. Nicht durch Übefliegersiege, sondern weil sie als Mannschaft extrem gut gegen den Ball arbeiten und – wie viele anderen Mannschaften auch – technisch ansprechend und leidenschaftlich antreten. Gegen die bundesdeutsche Auswahl ergab das ein Nullzunull der besseren Sorte. Das Spiel erinnerte mich an das WM-Finale 1994, als sich Brasilien und Italien 120 Minuten nahezu fehlerfrei beharkten. Kein episches Endspiel, kein Tor für die Ewigkeit – damals gab es Elfmeterschießen, am Donnerstag eine Punkteteilung.

Einschließlich des Vorbereitungsspiels gegen Ungarn, das vielleicht gar nicht so sehr ein Muster ohne Wert war wie vor dem Turnier angenommen, ist La Mannschaft jetzt seit drei Spielen ohne Gegentor. Zumindest das Defensivverhalten spielt sich langsam ein, der Verbrauch von Glück verlangsamt sich. In der Offensive wirkt die taktische Ausrichtung allerdings noch etwas diffus, weil sich zwei gute Spieler bisher dort im Weg standen. Thomas Müller bräuchte eine schöpferische Pause. Er wirkte schon in den letzten Wochen der Bundesliga-Saison überspielt und erschöpft und war gegen Polen nur ein fleißiger Schatten seiner selbst. Mario Gomez ist in seiner Zeit im Ausland gereift und wirkt nicht mehr so schnöselhaft wie einst. Wenn er allerdings mehr sein soll als ein Fremdkörper, muss er in die Startelf. Und er braucht Spieler, die ihn füttern, was für Schürrle in der Startelf spricht. Götze oder Draxler könnten dann statt Müller über rechts spielen, Özil wäre draußen.

In diesen Tagen, in denen kein Tag ohne pflichtgemäßes Sich-Echauffieren über Erdogan vergeht, haben viele „den Türken“ als vermeintlichen Schwachpunkt des Offensivspiels ausgemacht. Özil zeigt immer noch seine leicht phlegmatisch wirkende Körpersprache, trat aber in beiden Spielen extrem mannschaftsdienlich auf, gewann einige wichtige Zweikämpfe und trieb unermüdlich an. Sein Standing leidet auch darunter, dass er zu sehr an seinen genialen Momenten gemessen wird, eine gute Leistung reicht bei ihm nicht. Ich bezweifle, dass das Schwungrad der Offensive durch Özil und Kroos ganz vorne in Gang gebracht werden kann. Kroos mit seinen Schnittstellenpässen, Flankenwechseln und Schüssen aus der zweiten Reihe wäre der passende Mann für Schürrle und Gomez. Wenn Özil den zentralen Offensivmann geben soll, müßte Kroos sich weiter nach hinten orientieren und hätte dadurch noch bessere Steuerungsmöglichkeiten aus der Tiefe des Raums. Vor ihm könnte es dann die wuselige Variante sein mit Götze, Sané und eben Özil, dessen signature move nicht der 30-Meter-Diagonalpass aus dem Fußgelenk ist, sondern das Dribbling im und am Strafraum, wo er dann mit minimalinvasiven Kurzpässen die Lücke findet. Özil floats like a butterfly and stings like a bee, auch wenn er gerade 22 Kilogramm leichter ist als Ali beim Rumble in the Jungle. Özil und Kroos können beide spielen, aber nur einer kann der offensive Taktgeber sein, der dem Spiel seine Handschrift verleiht. Rückt Kroos nach hinten, wäre Khedira, der gegen Polen etwas fahrig auftrat, erst einmal draußen.

Für die erste Variante spricht, dass die Saison von Kroos noch etwas besser war als die von Özil, dass Gomez starten müsste und dass gegen die Nordiren wenigstens ein kopfballstarker Spieler vorne mit dabei sein sollte. Wohl dem, der solch ein Luxusproblem hat. Kein Wunder, dass der Bundestrainer lächelt.