Sag beim Abschied leise Ballack

Besonders froh bin ich nicht über den Gaucho-Tanz, aber es ist keine Herrenmenschenallüre, keine öffentliche Erniedrigung, nur eine kleine Blödelei. Genauso wenig ist „Seven Nation Army“ mit der Verszeile „I’m gonna fight ‚em all, A seven nation army couldn’t hold me back“ die Ankündigung, nach dem Vierten Stern jetzt den Dritten Weltkrieg nach Hause zu holen. Es ist ein schmaler Grat beim Derblecken der gegnerischen Mannschaften. Die Zeile „Ihr seid Schalker, asoziale Schalker“ wurde bisher noch nicht kritisiert als Reminiszenz nationalsozialistischer „Asozialen“bekämpfung. Oder sanktioniert als unsportliches Verhalten. Auch die DDR befleißigte sich dieses Begriffs zu Verfolgungszwecken, wenn auch nicht mit mörderischen Folgen. Diese Spitze ist gezielt gesetzt, Gelsenkirchen ist das Armenhaus Westdeutschlands, dass Bayernfans in der Bahnhofsmission schlafen, hört man eher selten.

Werder Bremen stinkt nach Fisch, nicht nach Schwarzwälder Schinken. Clubfans haben Aufnäher mit dem Spruch: „Kniet nieder ihr Bauern“. Auch das zeugt von großem Bewußtsein für die landsmannschaftlichen Besonderheiten und will trotzdem nicht die Besitz- und Gewaltverhältnisse aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges wieder etablieren. Die Nachbarstädter werden in Nürnberg gerne auch als „Spielverunreinigung Fürth“ bezeichnet. Ist das jetzt eine Himmlersche Sauberkeitsfantasie aus der ehemaligen „Stadt der Reichsparteitage“? Wohl eher nur ein fieses, kleines Wortspiel. Wobei zu klären wäre, wie alt der Spruch ist: 1928, 1938, 1978? „Urwaldlaute“ und Bananen sind als rassistisch verschrien, ebenso kritisiert und bestraft wurde die Aldi-Tüten-Choreographie in der Bayern-Südkurve gegen Galatasaray, eine ethnisch diversifizierte Fantasie derjenigen Leute, die nicht in der Bahnhofsmission schlafen und gerne auf dem Viktualienmarkt einkaufen (würden). Im internationalen Kontext wird der Grat noch schmaler, vor allem, wenn Fans oder Spieler „als Nation“ eine andere Nation ansprechen, schmähen, oder necken.

Dass der Gaucho-Tanz auf die Melodie von „Zehn kleine Negerlein“ angestimmt wurde, war noch gar nicht Gegenstand der Debatte. Oder doch? Die kleine Einlage war „mostly harmless“, nach Jet-Lag und einer durchfeierten Nacht muss man das nicht überbewerten. Nach drei WM-Finals ist Argentinien – Deutschland das Lokalderby des Weltfußballs. Kleiner Gruß an den Dauerkonkurrenten. Verzichtbar, aber nicht so schlimm. Medienkritiker Thomas Müller, der Marshall MacLuhan vom rechten Flügel, hat die Sinnhaftigkeit des Jubelkorsos mit seiner Bemerkung: „So, ARD, jetzt dürft er wieder das Wetter machen“ (natürlich auf bayrisch) schön auf den Punkt gebracht. Ich war noch nie auf der Fanmeile und will da auch nicht hin.

Hocherfreut, um nicht zu sagen, glücklich bin ich, dass diese Mannschaft den Titel gewuppt hat. Phasenweise sehr schöner und intelligenter Fußball, ein Entwicklungsprozess, der 2004 begann, ist in einem großartigen Finale zu einem guten Ende gebracht worden. Dass es 1990 ein Elfmeter war, der den Titel brachte, diesmal ein technisches Juwel nach Maßflanke macht deutlich, wie sehr sich der deutsche Fußball verändert hat im letzten Vierteljahrhundert. Brehme und Götze, Hrubesch und Hummels, nicht für möglich gehaltene Entwicklungsstufen, aber wahr. Großartige Spielertypen, eine gute Mischung. Die Generation Lahm ist sportlich erwachsen geworden und bietet alles, außer Rumpelfußball. Dazu der enigmatische Trainer Joachim Löw, die Schphinx von der Dreisam.

Durch den neuen Fußball haben sich auch die Sehgewohnheiten verändert. Die Fans sind taktisch viel feinsinniger geworden. Die Lahmdebatte zum Beispiel, oder die Frage nach der Offensivformation. Fußball kann auch hochklassig sein, wenn nur wenig Tore fallen. Das 7-1 ist die große Ausnahme in den K.O.-Spielen gewesen, fast alle anderen Tore wurden spät und knapp entschieden, waren aber trotzdem gut anzusehen. Und zum Schluß haben die Argentinier noch einmal alles an Defensivkunst rausgehauen, was sie zu bieten hatten, brandgefährliche Konter eingeschlossen. Wenn Higuain den Patzer von Kroos nutzt, wenn es nach dem Einsatz von Neuer Rot und Elfmeter gibt, wird es schwer, aber ohne Glück hat noch niemand ein Endspiel gewonnen. Und wieder hat Löw klug gewechselt. Schürrle für Kramer war richtig schick, und Götze war ebenfalls ein prima Joker, hat er ja ein Jahr lang bei Guardiola geübt.

Zum Abschluß noch eine Gedenkminute für Michael Ballack, ohne den dieser Erneuerungsprozess so schnell nicht passsiert wäre. Ballack und Kahn waren die einzigen beiden Weltklassespieler bei der WM 2002, aber Ballack war der Mann für die Zukunft, stilbildend in jeder Beziehung. Er hat begriffen, dass eine Mannschaft ein taktisches Konzept braucht, er konnte ein Spiel lesen, junge Spieler anleiten, war torgefährlich wie Müller, ein technisch sauberer Grätscher wie Schweinsteiger. Er hat die Lässigkeit in den deutschen Fußball gebracht, die Neuer, Boateng und einige andere  heute ausstrahlen. Außerdem war er einer der ersten Profis, die inhaltlich auf Reporterfragen geantwortet haben. Dass Lahm in freier Rede zwei Minuten nach Spielschluß taktische Spielanalysen liefert, dass Hummels den öffentlichen Raum hat, seine Überwältigung vom WM-Titel mit 40 Millionen Fans zu teilen, geht auf Ballack zurück. Ich glaube, den Gaucho-Tanz hätte er sich verkniffen. Danke, Capitano.

Die Mannschaft lebt, Charlie Brown

Nachdem ich gestern in der Süddeutschen Zeitung ARD und ZDF Beweihräucherung der deutschen Mannschaft vorgeworfen habe, kann ich jetzt Boris Büchler schlecht wegen vermeintlich hyperkritischer Fragen an Per Mertesacker kritisieren. Büchler ist einer der Lichtblicke beim Umgang mit Interviewpartnern. Aber ich kann Mertesackers Reaktion bei diesem kleinen Scharmützel verstehen. Seine Gegenfrage: „Wollen Sie, dass wir toll spielen und dann wieder rausfliegen?“ war großartig.

Mir fällt jetzt leider nicht ein, welcher Trainer gesagt hat, dass man auf dem Platz dauernd denken muss, dauernd überlegen muss, was man tut, damit man gewinnt, und wenn man aufhört zu denken, verliert man das Spiel. Klingt irgendwie nach dem Kopfarbeiter Guardiola, aber vielleicht war es auch jemand anderes. Löw? Ancelotti? Tuchel? Die deutsche Mannschaft jedenfalls hat genug von rauschhaften Siegen. Wer sich in einen Rausch spielt, denkt nicht nach. Alles läuft von allein, jeder Schuß ein Treffer. Alle jubeln, alles schick. Wenn dann das erste Spiel kommt,  nachdem der Rausch verflogen ist, weiß man nicht mehr weiter, dann fliegt man raus, geht an seiner Einfallslosigkeit zugrunde. Wie gegen Spanien 2010 und gegen Italien 2006. Deshalb auch die beinahe betretenen Reaktionen der Spieler nach dem Spiel gegen Portugal. Sind wir schon wieder so weit? Geht das schon wieder los?

Rausch ist keine Strategie. In den beiden schwierigen Spielen gegen Ghana und Algerien haben Löw und seine Spieler nach einer Antwort suchen müssen und jeweils die passende gefunden. Gegen Ghana setzten Schweinsteiger und Klose die entscheidenden Impulse, gegen Algerien war es der Superjoker Schürrle, der seit vielen Spielen immer da ist, wenn man ihn braucht. Es ist schön zu sehen, wie sich die drei „Engländer“ Özil, Schürrle und Mertesacker weiterentwicklen, auch wenn ihre Vereine keine ganz große Saison hatten.

Nach dem Ausscheiden von Mustafi spielte die alte Doppelsechs Khedira/Schweinsteiger und Lahm war endlich wieder außen. Also die Grundausrichtung von 2012. Entscheidend daran ist der zwischenzeitliche Lernprozess. Wenn sie mit dieser Startelf angefangen hätten, die Platzhirsche Khedira und Schweinsteiger durchgeschleppt hätten, bloß weil sie immer schon so gespielt haben, dann wäre das zu wenig durchdacht gewesen. Gedankenlos. Jetzt, nach vier Spielen mit vier verschiedenen Aufstellungen, spricht tatsächlich alles dafür, Lahm nach außen zu ziehen, schon allein, weil Kramer ja auch noch da ist. Der gab als WM-Debütant eine sehr entschlossene Figur ab, patzte hinten nicht und tummelte sich ab und zu auch vorne.

Dieses hart umkämpfte, klug herausgespielte und glückliche 2-1 gegen wirklich grandiose (und im Abschluß zu schlampige) Algerier hat einen sportlich viel höheren Stellenwert als die beiden überlegen geführten Spiele gegen England und Argentinien 2010. England ist seit 1996 ein Schatten früherer Tage, Argentinien stand vor vier Jahren im ganzen Turnier neben sich. Das führt zu der Frage, wie die Fußballöffentlichkeit hierzulande die Gegner einschätzt (erster Impuls immer noch: Die hauen wir weg) und welche Art von Spiel sie glücklich machen würde. Wer erwartet denn heutzutage noch Kantersiege in einem Achtelfinale? Bei dieser WM gab es zwei Spiele mit zwei Toren Unterschied, zweimal Elfmeterschießen, eine Verlängerung und die Beinahe-Verlängerung bei Holland – Mexiko. Wäre ein Achtelfinale wie gegen Schweden 2006 besser gewesen? Zwei schnelle Tore und dann 80 Minuten lang Ergebnis verwalten gegen einen überforderten Gegner? Dann doch lieber in jedem Spiel gefordert werden.

Natürlich ist es nervenzerfetzend, wenn Neuer viermal im Eins gegen Eins klären muss, aber im Vergleich zu Balotellis 2-0 im Halbfinale 2012 kommt die Mannschaft mit überfallartigen Kontern mittlerweile viel besser zurecht. Außerdem ist eine hochstehende Viererkette mit dem beidhändigsten Libero der Welt natürlich viel aufregender gegen eine tolle Kontermannschaft, als sich am eigenen Strafraum bis zum Stehkragen einzubunkern. Nebenbei: Wenn die Deutschen sich nicht Chance auf Chance erspielt hätten, hätte M’Bohli keine Weltklasseleistung zeigen müssen.

Erfreuliche Kleinigkeiten: Özil glänzt nicht, aber er hat in der zweiten Halbzeit einen defensiven Zweikampf nach dem anderen gewonnen und das entscheidende Tor gemacht. Schweinsteiger kann über 90 Minuten eine WM-taugliche Leistung abrufen. Löw hat im Rahmen der Möglichkeiten seinen Kader klug zusammengestellt. Man kann natürlich die Frage stellen, warum ein so erfahrener und defensiv polyvalanter Spieler wie Gonzalo Castro nicht dabei ist, aber das gestörte Verhältnis des DFB zu Spielern von Bayer Leverkusen würde den Rahmen sprengen.

Gegen Frankreich müssen sie sich wieder etwas einfallen lassen. Ich hoffe Lahm spielt außen, es ist eine andere, bessere Mannschaft, wenn er außen spielt. Schön, das mal in einem Spiel als Kontrast gesehen zu haben. Als Sechser macht er wenig falsch, als Außenverteidiger ist er eine Klasse für sich. Sieben-Titel-Götze dürfte sich hoffentlich aus der ersten Elf gespielt haben. Ich hoffe, Hummels ist wieder dabei und Müller bleibt fit. Und dann – auf zur nächsten Denksportaufgabe.

Saisonvorschau: Leverkusen Meister, Bremen steigt ab – Die Abschlusstabelle

Hier meine Prognose für die Abschlusstabelle. Vizekusen landet diesmal ganz vorn. Der Club kommt sehr weit nach oben. Bayern hat eine Findungsphase. Der HSV muss in die Relegation. Braunschweig und Bremen steigen ab.

1. Leverkusen (Sami und Rudi wuppen das Ding)

2. Schalke (hat in der Champions League zu tun)

3. Nürnberg (überrascht alle)

4. Dortmund (beißt sich oben fest)

5. Wolfsburg (weiß zu gefallen)

6. Hoffenheim (widerlegt seine Kritiker)

7. Stuttgart (spielt gut, wird aber abgefangen)

8. Bayern (sucht Sinn und Form, behält aber Guardiola)

9. Mainz (bleibt giftig)

10. Hannover (übernimmt sich)

11. Gladbach (fehlt die Balance)

12. Freiburg (hält souverän die Klasse)

13. Frankfurt (das zweite Jahr ist immer das schwerste)

14. Hertha (behält Trainer, Nerven und die Erstklassigkeit)

15. Augsburg (rettet sich vor dem letzten Spieltag)

16. HSV (ist von der Rolle, Relegation gegen St. Pauli?)

17. Braunschweig (raus mit Applaus)

18. Bremen (Ende mit Schrecken statt Schrecken ohne Ende)