Kroos und Özil – Zu viel Qualität auf engstem Raum

Ein Mangel, den einige bei dieser EM ausmachen, ist die geringe Torausbeute. Kantersiege in der Vorrunde sagen allerdings kaum etwas über die Qualität eines Turniers aus.  Bei der WM 1994 gewann Russland sein drittes Gruppenspiel gegen Kamerun mit 6-1, Oleg Salenko erzielte fünf Tore und wurde später (zusammen mit Hristo Stoichkov) Torschützenkönig. Allerdings war Russland nach zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen bereits ausgeschieden, als Salenko seine Ninety Minutes of Fame hatte.  In Frankreich sind die Ergebnisse meistens eng und fast alles ist offen: Von 24 Spielen endeten acht Unentschieden, neunmal gewann eine Mannschaft mit einem Tor Unterschied, fünfmal mit zwei Toren, zweimal mit drei Toren. Bis auf die Ukraine können alle Mannschaften noch weiterkommen. Das Leistungsniveau ist für viele überraschend vollkommen ausgeglichen, auch wenn Spanien und Belgien im zweiten Spiel ihre Gegner Türkei und Irland dominierten.

Polen konnte bisher seine beeindruckende Qualifikation bestätigen. Nicht durch Übefliegersiege, sondern weil sie als Mannschaft extrem gut gegen den Ball arbeiten und – wie viele anderen Mannschaften auch – technisch ansprechend und leidenschaftlich antreten. Gegen die bundesdeutsche Auswahl ergab das ein Nullzunull der besseren Sorte. Das Spiel erinnerte mich an das WM-Finale 1994, als sich Brasilien und Italien 120 Minuten nahezu fehlerfrei beharkten. Kein episches Endspiel, kein Tor für die Ewigkeit – damals gab es Elfmeterschießen, am Donnerstag eine Punkteteilung.

Einschließlich des Vorbereitungsspiels gegen Ungarn, das vielleicht gar nicht so sehr ein Muster ohne Wert war wie vor dem Turnier angenommen, ist La Mannschaft jetzt seit drei Spielen ohne Gegentor. Zumindest das Defensivverhalten spielt sich langsam ein, der Verbrauch von Glück verlangsamt sich. In der Offensive wirkt die taktische Ausrichtung allerdings noch etwas diffus, weil sich zwei gute Spieler bisher dort im Weg standen. Thomas Müller bräuchte eine schöpferische Pause. Er wirkte schon in den letzten Wochen der Bundesliga-Saison überspielt und erschöpft und war gegen Polen nur ein fleißiger Schatten seiner selbst. Mario Gomez ist in seiner Zeit im Ausland gereift und wirkt nicht mehr so schnöselhaft wie einst. Wenn er allerdings mehr sein soll als ein Fremdkörper, muss er in die Startelf. Und er braucht Spieler, die ihn füttern, was für Schürrle in der Startelf spricht. Götze oder Draxler könnten dann statt Müller über rechts spielen, Özil wäre draußen.

In diesen Tagen, in denen kein Tag ohne pflichtgemäßes Sich-Echauffieren über Erdogan vergeht, haben viele „den Türken“ als vermeintlichen Schwachpunkt des Offensivspiels ausgemacht. Özil zeigt immer noch seine leicht phlegmatisch wirkende Körpersprache, trat aber in beiden Spielen extrem mannschaftsdienlich auf, gewann einige wichtige Zweikämpfe und trieb unermüdlich an. Sein Standing leidet auch darunter, dass er zu sehr an seinen genialen Momenten gemessen wird, eine gute Leistung reicht bei ihm nicht. Ich bezweifle, dass das Schwungrad der Offensive durch Özil und Kroos ganz vorne in Gang gebracht werden kann. Kroos mit seinen Schnittstellenpässen, Flankenwechseln und Schüssen aus der zweiten Reihe wäre der passende Mann für Schürrle und Gomez. Wenn Özil den zentralen Offensivmann geben soll, müßte Kroos sich weiter nach hinten orientieren und hätte dadurch noch bessere Steuerungsmöglichkeiten aus der Tiefe des Raums. Vor ihm könnte es dann die wuselige Variante sein mit Götze, Sané und eben Özil, dessen signature move nicht der 30-Meter-Diagonalpass aus dem Fußgelenk ist, sondern das Dribbling im und am Strafraum, wo er dann mit minimalinvasiven Kurzpässen die Lücke findet. Özil floats like a butterfly and stings like a bee, auch wenn er gerade 22 Kilogramm leichter ist als Ali beim Rumble in the Jungle. Özil und Kroos können beide spielen, aber nur einer kann der offensive Taktgeber sein, der dem Spiel seine Handschrift verleiht. Rückt Kroos nach hinten, wäre Khedira, der gegen Polen etwas fahrig auftrat, erst einmal draußen.

Für die erste Variante spricht, dass die Saison von Kroos noch etwas besser war als die von Özil, dass Gomez starten müsste und dass gegen die Nordiren wenigstens ein kopfballstarker Spieler vorne mit dabei sein sollte. Wohl dem, der solch ein Luxusproblem hat. Kein Wunder, dass der Bundestrainer lächelt.

Sich einen runterhoolen – eine alte abendländische Tradition

Elf Anmerkungen zum bisherigen Verlauf der EM (Spiel 1 bis 10, ohne Gruppe F):

1.) Es noch gar nicht so lange her, da wurde hierzulande der Untergang des Abendlands beschworen, weil in deutschen Innenstädten Korane verteilt wurden. Die Reaktionen auf die völkervertrimmenden Krawalle in Frankreichs Innenstädten fallen im Verhältnis dazu reichlich verhalten aus. Ist halt alte abendländische Tradition, sich in überbordender Männlichkeit gegenseitig die Fresse zu polieren. Die russischen Hooligans haben sich vor Gericht ebenso in Luft aufgelöst wie einst die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Mit dem schlimmen Wort von der Lügenpresse hat das natürlich nichts zu tun, es handelt sich lediglich um bedauerliche Recherchefehler.

2.) Die Vorberichte im ZDF zum Eröffnungsspiel fielen dadurch auf, dass die Equipe Tricolor keinen Gegner hatte. Kein Wort über Rumänien, auch nicht über den Trainer Anghel Iordanescu, der  immerhin zweimal den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League gewann. Stattdessen tatsächlich bewegte Bilder vom WM-Halbfinale 1982 mit Marius Trésor, aber kein rumänischer Studiogast. Warum nicht Dorinel Munteanu, als Trainer mit Galati rumänischer Meister 2011? Ansonsten teilweise recht gute Spielberichte (Claudia Neumann) und auch eine sehr realistische Kommentierung der Leistung der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine (Gerd Gottlob). Selbst Tom Bartels war erträglich. Dazu noch ein O-Ton: Die Welt: Wie läuft eine Turniervorbereitung für Sie? Béla Réthy: Da gilt es, so viel wie möglich über die Teams zu recherchieren und wichtige Daten zusammenzutragen. Ich kann es kaum erwarten.

3.) Die Chance, als Gruppendritter weiter zu kommen, ermuntert die meisten Mannschaften, offensiver zu spielen. Man hat nicht den Wahnsinnsdruck, mit einer Auftaktniederlage gleich alles versaut zu haben. Ausnahmen wie Spanien 2010 bestätigen diese Regel. Bisher fallen die sogenannten Fußballzwerge in keinster Weise negativ auf. Es ist eben nicht die dritte, sondern die erweiterte zweite Reihe, die dabei ist: WM-Dritte wie Rumänien und die Türkei und große Fußball-Nationen, die in letzter Zeit wenig gerissen haben wie Ungarn, Tschechien und Portugal. Man weiß bis zum Schluß der Vorrunde nicht, gegen wen es geht. Hat Charme, dieser Modus.

4.) Das beste Spiel – bevor die Gruppe F an den Start ging – war Belgien gegen Italien, aber gleich danach kam für mich Wales gegen die Slowkei. Zwei gleichstarke Gegner, die alles probierten. Dazu der verdiente Sieger Wales, der in der Lage war, nach dem Ausgleich sehr schnell taktisch und spielerisch zu reagieren. Alle Spiele sind sehr fair, auch ein Zeichen dafür, wie viel besser das technische Niveau geworden ist.

5.) Die Engländer haben eine Mannschaft zum Liebhaben: Alli, Sterling und die anderen jungen Wilden sind mit heißem Herzen und spielerischer Leichtigkeit dabei. Aber mit dieser Chancenverwertung werden sie nicht weit kommen. Die ultimative Kränkung wäre es, wenn eine der anderen Mannschaften von den Inseln weiterkommt und die Three Lions nicht. Wales is waiting.

6.) Der Turnierstart der deutschen Mannschaft war besser als erwartet. Und dann auch noch zu Null, nach dem fröhlichen Scheibenschießen in den letzten zwei Jahren. Zu sehen gab es sehr viel Glück, einen sehr guten Neuer und schon ziemlich viele Ideen in der Offensive. Özil kommt in der allgemeinen Einschätzung zu schlecht weg. Er hat gerackert für drei und Schweinsteiger das 2-0 präzise aufgelegt. Nach all dem Hype um Odonkor wegen einer guten Flanke 2006 hat Özil mehr Respekt verdient. Ich hätte mir gewünscht, dass Boateng Kapitän ist, das wäre mal eine Ansage gewesen. Und Schweinsteiger hat immerhin schon Luft für sieben Minuten. Das läßt hoffen für die 1113. Minute in einem KO-Spiel.

7.) Eine seltsame Stimmung liegt über dem Turnier. Die EU steht möglicherweise vor ihrem Zerfall, mit zwei Teilnehmern – Türkei und Russland – gibt es massive Konflikte, allenthalben dräut und droht ein terroristischer Anschlag. Die Leute feiern, aber selten war es bei einem Turnier so deutlich zu spüren, dass Fußball eine Nebensache. Eine EM am Vorabend. Aber von was?

8.) Am besten trat neben den aus dem Nichts wieder erstarkten Italienern bisher Kroatien auf. Technisch überragend, in den Zweikämpfen giftig, aber nicht brutal, immer in der Lage, das Spiel zu machen. Und gespickt mit hervorragenden Einzelspielern: Srna, Mandzukic, Modric.

9.) Die Schiedsrichterleistungen sind bisher überwiegend gut. Bis auf den übersehenen Ellbogen von Giroud beim 1-0 gegen Rumänien gab es praktisch keine Fehlentscheidungen. Noch beeindruckender: Es scheint, die Schiedsrichter haben sich auf eine gemeinsame Linie geeinigt – wenige Karten, viel laufen lassen, sehr viel reden. Das gab es noch nie: Die Spielleiter verpassen einem Turnier ihre spielübergreifende Handschrift.

10.) Ibrahimovic hat den Ausgleich der Schweden erzwungen, aber ingesamt kommt es mir so vor, als sei das Modell 1 Superstar und 10 Wasserträger ein Auslaufmodell. Rooney ist ein mannschaftsdienlicher Kükenhirte geworden, Bale zerstreut erfolgreich seinen Kultstatus, Schland und Kroatien kommen ohne Superstar gut zurecht. Mal sehen, wie sich CR7 hineinfindet in seine Rolle als leader of the pack einer neuen Generation.

11.) Die Franzosen sind deutlich verbessert im Vergleich zu den letzten Turnieren. Sie tragen ihre Last der Erwartungen bisher mit mehr Esprit als die Brasilianer vor zwei Jahren. Aber Les Bleus werden ohne Zidane für mich immer unvollkommen sein. Wie ein Orchester ohne Violinen, ein Wald ohne Vögel, ein Essen ohne Gewürze. Trotz Lahm und Klose, Xavi und Iniesta, Buffon und Pirlo, bleibt Zizou die überragende Persönlichkeit der letzten 20 Jahre. Diese französische Mannschaft könnte aus seinem Schatten treten.

Meine vier Geheimfavoriten

Meine Geheimfavoriten für die WM sind so geheim, dass sie erst einmal geheim bleiben müssen. So viel sei an dieser Stelle verraten. Es sind zwei europäische, eine afrikanische und eine südamerikanische Mannschaft, denen ich eine große Überraschung zutraue. Vielleicht nicht gleich Weltmeister werden, aber zumindest als Wild Card Außenseiter ins Halbfinale stürmen und die Fans erfreuen. So wie die Türkei und Südkorea bei der WM 2002, oder wie Rußland und die Türkei 2008 bei der EM. Oder wie Dänemark 1992 bei der EM. Halt, die haben ja gewonnen. Also aufgepaßt. Wer den Gruppenkopf zu hoch trägt, sitzt am 26 Juni schon im Entmüdungsbecken.

Zwei der Länder sind ziemlich klein, weshalb die Menschen dort keine Mühe haben, auf engstem Raum Bälle in hoher Geschwindigkeit anzunehmen und zu verarbeiten. Die Bälle dort werden zu Schnetzeln verarbeitet und auf Kinderspielplätzen verstreut, wenn der Rindenmulch mal alle ist. Bei einem Land könnte man vermuten, dass sie mit langen Bällen, mit sehr langen Bällen, mit extrem außergewöhnlich langen Bällen immer nur durch die Mitte spielen. Aber das wäre vorschnell geurteilt. Das vierte Land hat nicht nur mehr als zwanzig Orte, die auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes stehen, sondern auch einen Ort, der zu den am schlimmsten verseuchten der Welt gehört. Kleiner Tipp: Es ist nicht die Müllkippe von Fröttmaning. Zwei Länder haben schon mal ein großes Turnier ausgerichtet, zwei der Länder sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. So viel erst mal dazu. Zu leicht soll es ja nicht werden.

Viel interessanter sind ja die Geheimfavoriten für die Ersatzbank von Herrn Löw. Lahm, Khedira, Schweinsteiger, Kroos und Özil sind alle gesetzt. Hätte Löw Kießling mitgenommen, könnte er ihn jetzt draußenlassen, aber so wird es eng. Ich finde immer noch, Schweinsteiger soll sich die Wettkampfhärte beim Aufreißen von Chipstüten und nicht auf dem Platz holen. Dann kann er nebenbei auch noch seinen nächsten Kartoffelchips-Werbespot drehen.

Auf anderen Plätzen:

Kai Butterweck fasst auf indirekter freistoss die (pflichtgemäße) Entrüstung in vielen Medien über die Verschwendungsucht der Verantwortlichen bei dieser WM zusammen. Zitiert werden u.a. Wolfgang Kunath (FR) zum neuen Stadion in Sao Paulo, Peter B. Birrer (NZZ) zum Korruptionsverdacht gegen die FIFA  und Astrid Prange (Deutsche Welle) über die pompöse Selbstinszenierung des Weltverbandes.

Frittenmeister von soccer-warriors.de hat einen Protestspot gegen Sepp Blatter eingestellt, in dem einige der legendärsten Fouls der WM-Geschichte zu sehen sind.

Jens Weinreich notiert seine Ideen zum FIFA-Kongress in Sao Paulo und ist froh, dass er seinen Bullshit-Counter dabei hat.