Wo warst du, als…?

Den gestrigen historischen Fußballabend verbrachte ich in einer wunderbaren Bar in Friedrichshain. Als fairer Sportsmann trank ich zur Unterstützung des Schiedsrichters Corona-Bier und aß ein paar Tacos. Nach dem 1-0 schenkten die Barleute kostenlosen Tequila an ihre etwa 30 Gäste aus, pro Tor ein Tequila versprachen sie uns,und ich sagte vorwitzigerweise „Wenn ihr das macht, seid ihr am Ende pleite“. 20 Minuten später, also nach Khediras 5-0 entschieden sie sich sinnvollerweise für einen Pauschalrum für alle Tore und gaben in Halbzeit Zwei noch einen obendrein.

Nicht nur für unsere us-amerikanischen Freunde Bündnispartner Interessenkonkurrenten Touristen waren die Geschehnisse unerklärlich. Einer merkte vorwitzig an: Wir haben nur 1-0 verloren, und in der Tat geben die USA oder Costa Rica oder Bosnien-Herzegowina wertvolle Hinweise auf die Gründe für diesen Spielverlauf.

Sicherlich haben der Ausfall von Neymar und Thiago Silva Brasilien erheblich geschwächt. Stellen wir uns vor, Müller wäre im Viertelfinale aus dem Turnier gefoult worden und Lahm wäre gelbgesperrt gewesen. Anders als die Brasilianer wäre das deutsche Team trotzdem nicht so auseinandergefallen. Man hätte vielleicht verloren, aber sich nicht binnen sieben Minuten komplett aufgegeben. Was uns zu den USA, Costa Rica und BiH bringt, die alle als Team überragend funktioniert haben. Brasilien ließ sich auf den Personenkult um Neymar ein, befeuerte ihn sogar noch. Wenn dieses Spiel mit einem anderen vergleichbar ist, dann mit dem WM-Finale 1998. Dort gab es mit Frankreich auch einen erfreulichen und verdienten Sieger, und der vermeintliche Superstar Ronaldo war genauso platt und enttäuschend wie seine Mitspieler. Auch diesmal wurschtelten sich die Brasilianer mehr schlecht als recht durch das gesamte Turnier und konnten nie – anders als die Spanier in ihrer Epoche – eine schlüssige Spielidee präsentieren. Die Methode Gewonnen, egal wie, reicht für ein Halbfinale, hat auch bei Deutschland schon zu manchem Halbfinale gereicht, reicht aber nie für einen Titel.

Ein weiterer Grund für den Spielverlauf ist das 4-4 gegen Schweden, vielleicht der heilsamste Schock unter Löw überhaupt. In der 60. Minute dachte ich daran, dass das 4-4 in der 70. Minute seinen Anfang genommen hatte. und war gespannt. Dann machte Schürrle das 6-0 und zerstreute alle Bedenken. Wer das 1-0 gegen Brasilien macht, denkt sich: ein 1-0 wird nicht reichen. Besser noch eins nachlegen. Und das 2-0 entwickelte eine unglaubliche Sogwirkung. In den besonderen fünf Minuten erzielte Deutschland das gleiche Tor dreimal. Pass auf halblinks in die Schnittstelle, rechts quergelegt, alle Brasilianer irren eurythmisch durch den Strafraum, drin isser. Wenn Deutschland gewollt hätte, hätte dieses Spiel zweistelling ausgehen können. Glücklicherweise wollten sie nicht, glücklicherweise spielte Brasilien in Würde weiter und kam zu seinem Ehrentreffer, der vielleicht besser Würdetreffer heißen sollte.

Der Hauptgrund aber ist, dass es Löw und Flick und Köpke und Bierhoff gelungen ist, ein funktionierendes Team zu bauen. Es war zu beobachten, dass diesem Turnier der große Favorit fehlt. Ergänzend könnte man sagen, dem deutschen Team fehlt die Überfigur. Und zwar nicht, weil sie alle im Mittelmaß verschwinden, sondern weil jeder in der Lage ist, ein besonderes Spiel zu liefern. Gegen Portugal überragte Müller, gegen Ghana war Klose zur Stelle, gegen die USA holte sich  Schweinsteiger seinen Stammplatz zurück. Gegen Algerien war es Neuer, gegen Frankreich Hummels, gestern Kroos. Wer weiß, wer am Sonntag zur Stelle sein wird. Dieses Team bietet eine besondere Mischung aus Coolness und Leidenschaft, die viel Freude macht. Müller im Interview gestern zum Beispiel, ohne einen Anflug von Hochmut oder Selbstgefälligkeit. Einen Effenberg oder Matthäus nach einem 7-1, egal gegen wen, mag ich mir gar nicht vorstellen. Ergebnisfußball? Mit solchen Ergebnissen gerne.

Bleibt noch der Sonntag. Der berühmte letzte Schritt. Nachdem alle meine Favoriten vorzeitig das Zeitliche gesegnet haben, tue ich Holland sicher keinen Gefallen, wenn ich sie zum Finalgegner ausrufe. Aber alles andere wäre eine große Überraschung. Was das Teambuilding angeht, gilt auch für Oranje. Die notorischen Streithansel des Weltfußballs sind taktisch souverän, haben fünf, sechs Leute, die im entscheidenden Moment über sich hinauswachsen können. Ihr Trainer ist ein schlauer, alter Sack Fuchs.  Auch sie haben ihre Spieler für besondere Momente. Van Persie gegen Spanien, Depay gegen Australien, Huntelaar gegen Mexiko, Krul gegen Costa Rica. Und natürlich Robben.  Ich habe noch nie einen Spieler gesehen, der so darauf brennt Weltmeister zu werden wie diesen Arjen Robben. Seine Ansprache vor der Verlängerung gegen Costa Rica ist genauso historisch wie Kloses 16. Tor. Und van Gaal, der vermeintliche Sturkopf, ließ ihn gewähren.

1974 hat eine Mannschaft Brasilien 2-0 rauschhaft an die Wand gespielt. Den Titel geholt haben am Ende die Anderen.

 

 

 

 

Meine Geheimfavoriten (3)

Meine Geheimfavoriten sind alle schon raus. Ghana und Bosnien-Herzegowina in der Vorrunde, die Schweiz und Chile im Achtelfinale. Bis auf Ghana alle unglücklich, alle knapp. Ghana hätte gegen Portugal gewinnen müssen, aber wer gar kein Vorundenspiel gewinnt, der fliegt dann halt auch mal raus. Bosnien-Herzegowina hat mir sehr gut gefallen, ich hoffe, die sind bei der EM 2016 dabei. Die Schweiz hat gerade eine Goldene Generation, aber Hitzfeld zu ersetzen, wird schwierig. Jemand hat getwittert, Hitzfeld sei kein wirklich großer Trainer gewesen, weil er taktisch nichts Neues kreiert habe. Hitzfeld hat mit zwei verschiedenen Mannschaftendie Champions League gewonnen, das haben nicht so viele neben ihm geschafft. Und seine große Stärke war es, die Spieler stark zu machen, die er hat. Es ist richtig, er war kein Systemtrainer, er war ein Spielertrainer, kein Taktiker, sondern ein Psychologe, und hat es geschafft, dass su unterschiedliche Spieler wie Riedle, Linke, Kuffour, Ricken über sich hinauswachsen konnten.

Chile war von den vier Geheimfavoriten der Stärkste. Nächstes Jahr sind sie Gastgeber der Copa America, da rechnen sie sich etwas aus mit dem Heimvorteil. Wenn der Schiedsrichter nicht die zwei Tore Mexikos gegen Kamerun aberkannt hätte, wäre Mexiko Gruppenerster geworden und Holland oder Brasilien wären jetzt schon raus, Chile oder Mexiko im Viertelfinale.

Alle acht Gruppensieger sind weiter gekommen sind, aber sollte man nicht vergessen, dass einer davon Costa Rica ist. Es wäre natürlich viel lustiger, wenn Holland gegen Costa Rica rausfliegt als gegen Mexiko. Einen klaren Favoriten gibt es nicht, das ist nicht erstaunlich, aber ist die WM deswegen sportlich weniger wert? 1998 quälte sich Frankreich durchs Achtelfinale und gewann durch ein Golden Goal von Laurent Blanc gegen Paraguay. Zidane sah in der Vorrunde eine Rote Karte. Trotzdem hat die Mannschaft mit dem international völlig unbekannten Trainer Aimé Jacquet einen neuen Stil begründet und viele große Spieler hervorgebracht. Karembeu, Djorkaeff, Lizarazu, Barthez, das war eine Weltauswahl in Bleu Blanc Rouge. Jacquet war äußerst bescheiden, was seine Leistung anging, und meinte einmal, eigentich bräuchte die Mannschaft keinen Trainer, die wüssten selbst, was sie zu tun haben. Jetzt ist der Boss auf dem Platz von damals, Didier Deschamps, der Trainer von heute auf der Bank. Und er macht seine Sache sehr gut. Aus überwiegend unbekannten Spielern formt er Schritt für Schritt ein Team. Vielleicht hilft es sogar, dass Ribéry nicht dabei ist. Auch die Spanier wuchsen erst dann zu einer großen Mannschaft, als Rául nicht mehr dabei war. Beide Spieler sind alles andere als Stinkstiefel, aber vielleicht waren sie zu groß, zu übermächtig, damit eine neue Mannschaft entstehen kann. Bei Bayern und Schalke waren sie zunächst die New Kids On The Block.

Trotz der bisher gezeigten ordentlichen Leistungen denke ich nicht, dass Frankreich weiterkommt. Der Auftritt gegen Nigeria war schon ziemlich halbherzig. Aber in zwei Jahren, im eigenen Land, das könnte wieder etwas werden. Ferner hoffe ich auf einen Sieg der Fliegenden Kolumbianer gegen Brasilien, befürchte, dass Costa Rica gegen Holland der Sprit ausgeht, und meine, dass Belgien auch die Argentinier jugendlich leichtsinnig überrennen wird. Was dann wie 2010 drei europäische Mannschaften ins Halbfinale brächte. Das kann eigentlich auch nicht sein. Fliegt Holland doch raus. Mir auch recht.

Digitale Minimalisten

Eins oder Null, welch einen Unterschied das machen kann, hat Bayer Leverkusen jetzt in zwei Auswärtsspielen innerhalb von vier Tagen eindrucksvoll bewiesen. Gegen die überhitzten Duracell-Häschen aus Lüdenscheid waren sie gallig, in San Sebastian abgebrüht. Leverkusen beherrscht nicht nur den gepflegten Offensivwirbel, sondern hat auch die Entschlossenheit, ein dreckiges 1-0 zu machen, wenn es sein muss. Und es ist kein Zufall, dass ein Abwehrspieler, Toprak, das Tor für das Achtelfinale gemacht hat. Ein Malocher, ein Abräumer, ein Defensiver. Auch das zeichnet große Mannschaften aus. Puyol 2010 im Halbfinale, als die DFB-Elf ziemlich lange ziemlich gut verteidigt hatte. Oder 1998 Laurent Blanc gegen Paraguay im Achtelfinale mit dem Golden Goal. Reingehämmert, -gewürgt, -gebolzt irgendwie. Spanien und Frankreich konnten auch anders damals, und Leverkusen ist spielerisch noch nicht am Limit. Sie haben kein Genie mehr wie Emerson, keinen Grandseigneur wie Ze Roberto und keine technisch versierte Kampfmaschine wie Lucio in ihren Reihen, sie wachsen und entwickeln sich gemeinsam, ganz still und leise unter Anleitung des klugen Sami Hyypiä.

Obwohl die mannschaftliche Geschlossenheit die große Stärke ist, möchte ich Simon Rolfes ausdrücklich herausgeheben. Er spielt die beste Saison seiner Laufbahn und ist nicht nur nominell der Mannschaftskapitän, sondern das heimliche Kraftzentrum in dieser Hinserie. Notendurchschnitt 2,92, dazu zwei Tore in der Liga und drei in der Champions League. Das ist zahlenmäßig nicht viel, aber es waren entscheidende Tore, die der Mannschaft die Möglichkeit verschafften, sich das Spiel anzueignen und zu gewinnen. Gegen Hannover das 1-0, gegen Augsburg das 1-1, gegen San Sebastian im Hinspiel das 1-0 mit dem Halbzeitpfiff, gegen Donezk den Elfmeter zum 2-0. Dass die Mannschaft sein 1-1 in Manchester nicht besser nutzen konnte, lag nicht an ihm. Selbst beim desaströsen 0-5 gegen Manchester hatte Rolfes die Note 3,0 im kicker. Er ist stabil, aggressiv, findet fast immer eine spielerische Lösung und für einen defensiven Mittelfeldspieler torgefährlich genug, um unberechnbar zu sein.

Dass man Rolfes nach dem Ausfall von Khedira öffentlich nicht einmal in Erwägung gezogen hat, zeigt, dass Bundestrainer Löw kein Problem mit Kießling, sondern mit Leverkusen hat. Auch Leno, der im Gegensatz zu ter Stegen, Adler und Zieler CL spielt, bekommt viel zu wenig Anerkennung für seine konstant überragenden Leistungen. In der Bundesliga hat er einen Notenschnitt von 2,53 und ist damit notenbester Torwart (Weidenfeller 2,68, Neuer 3,03). In der CL steht Leno bei 2,60 (Neuer 2,50, Weidenfeller 3,25). Rolfes würde diesem mit Schönspielern überreichlich gut besetzten DFB-Kader gut zu Gesicht stehen. Die Özil, Götze und Reus brauchen Leute, die ihnen den Rücken freihalten, die auch mal einen nach klassischer Manier reinwürgen, wenn die Ästheten vorne wieder mal in Schönheit ausscheiden. Ein guter Sechser ist er nebenbei auch.