Rote Bete Fraktion

Endlich ein Roman über Terrorismus in Deutschland, noch dazu von mir. Hier schon mal eine Kleinigkeit zum Kennenlernen.

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Das Polizeipräsidium lag gegenüber vom Flughafen. Vom Schreibtisch aus hatte Hauptkommissar Pachulke die beiden Flugzeuge mit Julius Dongle und Romea Cache gesehen. Aber er hatte ihnen keine Beachtung geschenkt. Er zählte Büroklammern: Neunundvierzig, Fünfzig, Einundfünfzig. Es stimmte genau. Er nickte leicht beim Zählen, und der Bürostuhl quietschte dabei. Gestern waren es noch dreiundfünfzig gewesen. Mit einer hatte er die Spesenbelege des letzten Quartals zusammengeheftet, mit der zweiten hatte er sich die Fingernägel sauber gepult und dann weggeworfen, eine dritte hatte er seinem Assistenten Dorfner geschenkt. Als Zugang verbuchte er einen Fund im Aufzug auf dem Weg in sein Büro. Einundfünfzig. Drei mal zählen sollte eigentlich reichen, er hasste übertriebene Gründlichkeit. Er sah auf den Abreißkalender an der Wand zu seiner Linken: Noch genau 5963 Tage bis zur Pensionierung. Da musste man sich die Kräfte einteilen.

Er spähte in dem kleinen Zimmer umher, auf der Suche nach einer die Sinne betäubenden Betätigung. Die Sonnenstrahlen leuchteten unbarmherzig deutlich auf die Schlieren an den Fenstern und den Teppichboden in der Farbe von eingetrocknetem Senf. Die grauweißen Wände waren kahl, abgesehen von einem großen mit Pappe unterlegtem Stadtplan, in dem bunte Markierungsnadeln steckten. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke hinter der Tür stand ein alter Kopierer, der dumpf vor sich hinbrummte. Die Neonlampe an der Decke war aus. Eigentlich war sie kaputt, aber jetzt war sie aus. Das war die Bürowabe, die der „SoKo Veganischer Terrorismus“ als Hauptquartier diente. Pachulke betrachtete seine Kollegin.

Kriminalkommissarin Xenia Yolantha Zabriskie saß barfuß und mit untergezogenen Beinen in einem roten Ohrensessel und las Zeitung. Über ihr Gesicht huschte ab und an ein kleines Grinsen. Scheinbar völlig vertieft kraulte sie den kleinen sprungbereiten schwarzen Panther, der auf ihrer linken Schulter eintätowiert war, während sie las: „Sollte es möglich sein, dass eine Handvoll von Desperados den Einzelhandel in dieser Stadt in Angst und Schrecken versetzt? Fast kein Tag ohne Anschlag auf einen Gewerbebetrieb, und die Damen und Herren bei der Kripo scheinen geschlossen im Strandbad Plötzensee zu liegen. Bei Tarifverhandlungen heißt es gebetsmühlenartig, bei der Polizei gebe es so schrecklich viele Überstunden. Dann sollen sie eben noch ein paar mehr machen und diesen selbst ernannten ‚Fun-Guerilleros‘ endlich das Handwerk legen.“

Der Leitartikler war schon in Zeile zehn zu voller Form aufgelaufen, Zabriskie erkannte das neidlos an. Man konnte ahnen, wie er beim Schreiben das Wort „Fun-Guerilleros“ gegen die Mattscheibe seines Computers gespuckt hatte. Am 7. April hatten sie das erste Mal zugeschlagen. Sie überfielen eine Zoohandlung in Neukölln und befreiten alle Tiere: Vögel, Hamster, Fische, Geckos, sogar das Lebendfutter, Kakerlaken und Schnecken. Die 84-jährige Eigentümerin musste tatenlos zusehen. Von da an hatte es fast keine Woche ohne Überfall gegeben. Hundesalons, Pelzgeschäfte, Steakhäuser, sogar eine Agentur, die Tiere für Filmaufnahmen vermittelte. Auf ihrem und Pachulkes Schreibtisch stapelten sich siebzehn Bekennerschreiben. Das letzte war heute Morgen per Fax gekommen. Ein Angriff auf ein Hutgeschäft in Charlottenburg. Die Forderung war immer die gleiche: Freiheit für alle Tiere. „Rote Bete Fraktion“, knurrte Zabriskie. „Beschissene kleine Bastarde.“

Sie lugte an der Zeitung vorbei. Assistent Dorfner saß am Schreibtisch und las in einer Zeitschrift mit vielen bunten Bildern. Mit gerunzelter Stirn beugte er sich über das aufgeschlagene Heft und markierte sich wichtige Stellen mit dem Kugelschreiber. Gelegentlich fuhr die Zunge aus dem Mund und leckte über die Oberlippe.

„Na, Dorfner“, brüllte Zabriskie „lernst du wieder deinen Schweinkram auswendig?“

Dorfner zuckte zusammen, sah Zabriskie durch die Brillengläser an und presste die Lippen zusammen. „Einer muss es ja lesen“, sagte er kurz und beugte sich wieder über das Heft.

Zabriskie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihre kurzen Haare und fühlte den leichten Schweißfilm. Plötzensee. Das wäre jetzt die richtige Abwechslung. An der alten Hängeregistratur aus bräunlichem Metall klebte eine Postkarte mit dem Tafelberg: Greetings from South Africa. Eine Erinnerung an die vorletzte Tourismusbörse. Keiner der drei war jemals in Südafrika gewesen. Nicht einmal Nordafrika. Tunesien, dachte Zabriskie. In einer dämlichen Touristenburg am Strand liegen und Drinks schlürfen, das wäre es jetzt. Aber da wurde ja gefoltert. Also doch nur Baden an der Plötze. War aber auch pietätlos, als Bulle neben den ganzen Knackis. Sie warf die Zeitung auf den Schreibtisch.

„Weiß man schon, von wo aus das Fax geschickt wurde?“, fragte sie.

Pachulke überlegte, ob er die Glasplatte des Kopierers vielleicht noch einmal reinigen sollte. Die Sprühflasche stand im Schrank. Oder sollte er besser Dorfner langsam an diese Aufgaben heranführen? Als er Zabriskies Frage hörte, zog er die Mundwinkel nach unten.

„Ja“, sagte er knapp. Ihre Mischung aus Fleiß und Lebensfreude waren für ihn eine ständige Irritation. Zabriskie klopfte mit der Faust einmal leicht auf ihren Schreibtisch, und er spürte ihren Blick auf sich ruhen. Seine Augen suchten das Weite, fanden aber nur den eingestaubten Eimer, der in der jetzigen Trockenperiode funktionslos neben seinem Schreibtisch stand. Die meiste Zeit des Jahres war er zusammen mit seinen Geschwistern, Wannen und Töpfen, ein eifersüchtig gehütetes Utensil.

Pachulke lehnte sich in seinem Sessel zurück und hob die Arme. Dicke Schweißflecken kamen zum Vorschein. „Es war ein Faxgerät im Gemüsemarkt an der Beusselstraße. Sehr originell. Ich habe mit dem Vorarbeiter der Packer dort telefoniert. Er kann unmöglich den Überblick behalten, wenn sechzig Leute mit dem Ausladen beschäftigt sind. Jeden Tag kommen andere, das Einzige, was man zur Tarnung braucht ist eine grüne Kittelschürze. Es gibt ein Büro dort, so ein Kabuff für den Verwaltungskram. Wenn sie die Ware abladen, ist das Büro meistens leer, weil der Vorarbeiter unterwegs ist. Ein Fax schicken dauert keine Minute.“ Er nahm das Bekennerschreiben aus der Ablage. „Um 4.30 Uhr ist es bei uns eingegangen.“

Er räusperte sich und las vor: „Wir haben gestern Abend das Hutatelier Jähnisch in der Damaschkestraße 12 in Charlottenburg angegriffen und zerstört. Die Wolle gehört den Tieren. Wie du Cashmere, so ich dir. Hanf statt Angora. Freiheit für die Pudelmützen! Freiheit für alle Tiere! Rote Bete Fraktion. Dieses Bekennerschreiben wurde maschinell erstellt und ist daher ohne Unterschrift gültig.“

Pachulke wollte die Personalien und Essgewohnheiten von sechzig Gemüsepackern nicht überprüfen. „Essen Sie eigentlich Fleisch?“ Diese Frage hatte er in den letzten Wochen zu oft gestellt. Er sagte zu Zabriskie: „Du fährst zum Großmarkt und hörst dich dort um. Sprich mit dem Vorarbeiter.“

Zabriskie nickte und ließ das Kinn nach unten fallen. Pachulke war nur halb zufrieden. Er wollte genauso wenig nach Charlottenburg fahren und Mützen zum Stückpreis von 350 Euro betrauern, während er mit der Ladeninhaberin – ihr zirpendes, nimmermüdes Stimmchen klang ihm noch im Ohr – über ihr faszinierendes Leben plaudern musste, bis sie endlich eine vernünftige Personenbeschreibung ausspuckte. Aber Dorfner konnte er da nicht hinschicken. Am Ende stellte er wieder etwas an.

Viel war es nicht, was er und seine beiden Kollegen bisher über die Rote Bete Fraktion wussten. Sie waren Vegetarier. Eingefleischte Vegetarier, wie ein Kollege nach dem dritten Überfall, es war ein Steakhaus gewesen, süffisant bemerkt hatte. Sie hatten genaue Kenntnis von allen Örtlichkeiten, die sie aufsuchten. Sie waren nicht dumm. Sie waren wahnsinnige und gemeingefährliche Dogmatiker.

Hodelditadeldi! – Hodelditadeldi! machte das Telefon. Pachulke zuckte zusammen und sah, wie Zabriskie zu ihm herüberschaute. Er nahm den Hörer ab, sagte Ja und Aha, dann Soso und TsTs, dann wieder Ja, Also weeßte und zum Schluss Nein. Schließlich legte er auf, und bedachte Zabriskie seinerseits mit einem langen Blick.

„Und?”

„Wir müssen in den Zoo. Der Panda ist weg. Dorfner, du bleibst hier und untersuchst die Bekennerschreiben nach grammatikalischen Auffälligkeiten. Dem Dativ auf der Spur bleiben.“ Dorfner wollte protestieren, aber Pachulke drehte sich nicht mehr nach ihm um, und Zabriskie winkte nur, als sie die Wabe verließen.

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