Kultur als Wille und Vorstellung

die_bremer_stadtmusikantenDer rot-rot-grüne Senat in Berlin hat kaum seine Arbeit aufgenommen, da verabreichen Der Tagesspiegel, Die Welt und weitere übliche Verdächtige das tägliche Löffelchen Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes steht kurz bevor. Die Lage ist ernst, schließlich geht es um die Bundestagswahl. Wenn R2G in Berlin so gut funktioniert wie R2D2 im Kino, wer braucht dann noch die soignierte Grinsekatz Kretschmann als Koalitionsmacher? Besonders eingeschossen haben sich die versammelten Abendländler auf Klaus Lederer von der Linkspartei. Über ihn räsonierte Der Tagesspiegel vor seinem Amtsanstritt: „Er sang im A-Capella-Chor, geht mehrmals in der Woche ins Theater: Reicht das, um ein guter Kultursenator zu sein?“ Eine ausgezeichnete Frage. Welche kulturelle Leistungen muss ein guter Kulturchef vollbracht haben?

Wladimir Putin liest aus Krieg und Frieden

Hier das Update für die anderen Bundesländer: Ludwig Spaenle verzierte als Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn in Bayern Tausende von Transportwaggons mit seinem Graffiti-Tag Mia san mia. Kein Wunder, dass Street Art von ihm in jeder Kabinettssitzung gehypt wird. Susanne Eisenmann war in Baden-Württemberg Büroleiterin von Günther H. Oettinger. Sie bäckt gerne Plätzchen und organsiert den alljährlichen Bücherbasar im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Konrad Wolf war Professor für Halbleitertechnologie und mikroelektronische Bauelemente an der Hochschule Kaiserslautern. Im Kabinett von Rheinland-Pfalz beliebt sind seine Imitationen von Sheldon B. Cooper aus der Kultserie Big Bang Theory. Außerdem interessiert er sich für die Filme des Regisseurs Konrad Wolf. Ulrich Commerçon studierte slawische Literatur. Als Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Lesen würde er gerne einmal Wladimir Putin im Saarland begrüßen, der aus Krieg und Frieden vorträgt. Ralph Alexander Lorz ist Jurist. Er legt gerne 5000-Teile-Puzzles gegen die Uhr. 2018 will er die Weltmeisterschaft im Puzzlen nach Hessen holen, auch wenn Ministerpäsident Volker Bouffier wegen reisender Puzzle-Hooligans noch zögert. Christina Kampmann war in jungen Jahren Einpeitscherin in der Fankurve des FC Gütersloh. Ihr „Wohltemperirtes Gesangsbüchlein für den gemeinen Fan“ genießt in ganz Nordrhein-Westfalen Kultstatus. Frauke Heiligenstadt belegt Zeichenkurse an der Volkshochschule Northeim. Dem Museum Wilhelm Busch in Hannover hat sie ihr gezeichnetes Prequel Max und Moritz – zwei Waisenkinder auf Klassenfahrt als Dauerleihgabe überlassen.

Ein Musem für Malen nach Zahlen in Pirna

Bremens Bürgermeister Carsten Sieling ist zugleich auch Kultursenator. Zusammen mit wechselnden anderen Mitgliedern des Senats geht er an Karneval als Bremer Stadtmusikanten, wobei es angeblich bereits mehrfach Streit gegeben haben soll, wer die Katze sein darf. In Hamburg ist nach dem Tod von Barbara Kisseler das Kulturressort Ende Oktober noch nicht wieder besetzt. Die CDU wünscht sich jemand, der jonglieren kann. Die SPD möchte eine Frau, die Heidi Kabel ähnlich sieht. Die Grünen möchten was Weltläufiges und haben inoffiziell bei Barack Obama angefragt.

Anke Spoorendonk gehört der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein an. Sie spielt gerne Schachboxen mit Lars von Trier und war in Breaking the Waves in einer kleinen Nebenrolle zu sehen. Birgit Hesse wurde gerade als Ressortchefin in Mecklenburg-Vorpommern vorgestellt. Die Juristin studierte unter anderem in Genf und Lausanne, wo sie das Alphornspiel erlernte. Ihr dreifach schallgedämmtes Dienstzimmer führte zu kritischen Nachfragen des Landesrechnungshofes. Sachsen-Anhalt hat kein eigenes Kulturressort. Zuständig als Staatssekretär in der Staatskanzlei ist Gunnar Schellenberger. Er ist seit 1999 Mitglied im Schützenverein SV Hubertus 1990 e. V. und Mitglied der Böllergruppe Schönebeck. Benjamin-Immanuel Hoff posiert an Goethes Geburtstag am 28. August zusammen mit Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee als lebendes Goethe-Schiller-Denkmal in wechselnden Städten Thüringens. Hoffs umfangreiche historische Perückensammlung leistet dabei gute Dienste. Eva-Maria Stange war Diplomlehrerin für Mathematik. Als Ressortchefin im Kabinett von Stanislaw Tillich träumt sie von einem Museum für Malen nach Zahlen in Pirna, das nach ihr benannt werden soll. In Brandenburg ist Martina Münch für die Kultur verantwortlich. Sie töpfert gerne und will die Zahl der Backsteinmuseen im Land verdoppeln. Lange Jahre arbeitete sie als Ärztin an der Charité. Ihr Drehbuch zu einer großen Chronik der Klinik „Von Sauerbruch zum Mauerbruch“ wird gerade von den zuständigen Filmgremien geprüft.

Fazit: Berlin ist mit Klaus Lederer gut aufgestellt. Wenn er in seinem Wahlkreis noch eine Böllergruppe gründet, geht das Abendland vielleicht doch nicht unter.

Ein Buch später – „Immer schön gierig bleiben“

Im September 2012 habe ich hier zum letzten Mal geschrieben. Danach folgte eine längere Pause. Es gab keinen besonderen Grund. Ich hatte andere Sachen zu erledigen. I’m known by many names. Im Frühjahr 2013 habe ich mit dem nächsten Buch begonnen, und vor zwei Monaten, Mitte November, ist mein neuer Kriminalroman „Immer schön gierig bleiben“ erschienen. Bei der Stoffsammlung, die im Hintergrund sowieso immer mitläuft, fand ich eine Schlagzeile, die so etwas wie ein Türöffner war: Von einem der auszog, sich selbst zu belügen. Der Verweis auf das Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ schuf eine Verbindung zur phantastischen Seite der Geschichte, die ich im neuen Buch unter anderem durch die Existenz riesiger wilder Müllkippen mitten in der Stadt erzähle. Die biographische Formulierung „Von einem, der“ verlieh einer der Hauptfiguren die ersten Konturen. Erstaunlich, dass ein einfacher Satz, von jemand anderem in einem völlig anderem Kontext formuliert, diese katalytische Wirkung entfalten kann. Genau diesen Satz hatte ich gesucht, ohne zu wissen, dass er es war.

Ursprünglich hatte ich vor, einen bestimmen Tag in der Vergangenheit, der nur geschah, um die Lücke zwischen zwei anderen Tagen zu schließen, also kein historisches oder symbolisches Datum, zu rekonstruieren.  Ein Tag, der nur für sich selbst steht. Diese Idee ist in den Hintergrund getreten, obwohl der der 23. Juni eine wichtige Rolle spielt. Anstatt das Geflecht der historischen Details jenes Tages nachzuzeichnen, habe ich mich auf das Geflecht der Figuren konzentriert. Es sind viel weniger Figuren als in „Kleine Biester„, ich hatte mehr Zeit für jede_n Einzelne_n im neuen Buch.

Während des Schreibens gaben die Tasten t, z und o auf meinem Laptop den Geist auf. Die südamerikanische Raubkatze leopardus pardalis hieß plötzlich nur noch el. Die Kunstrichtung Rkk. Der derbe, obszöne Witz, der als gegen den guten Geschmack verstoßend empfunden wird, wurde zu e. Eine externe Tastatur habe ich beim Schreiben des Buches verschlissen, jetzt gehen funktionieren die Tasten auf dem Laptop wieder. Nicht immer, aber immer öfter.

50 Jahre „Bonanza“ – 40 Jahre „Keine Macht für niemand“

In der Berliner Zeitung stand am 11. September 2012 ein hübscher Artikel zum 50-jährigen Jubiläum der ersten Ausstrahlung von Bonanza. Ich wundere mich, dass noch niemand die Serie zum Kultobjekt der Schwulenbewegung ausgerufen hat. Vier Männer, keine Frau und ein Koch, das ist schon verdammt merkwürdig. Bei Donald und den drei Neffen gibt es ja wenigstens noch Daisy im Hintergrund. Nicht das Schaf, die Erpelette. In der sehenswerten Dokumentation The Celluloid Closet (1995) von Rob Epstein und Jeffreey Friedman über Schwule und Lesben in Hollywood gibt es einen Filmclip, in dem Montgomery Clift(?) und noch ein Schauspieler(???) ihre Colts (Schwänze) eingehend vergleichen. Völlig unvorstellbar, dass Michael Landon und Lorne Greene…Dan Blocker als der geistige Großvater von Heath Ledger…Winnetou und Old Shatterhand sind ja auch ein Liebespaar.

Dan Blocker, der der Serie als Hoss von Anfang an ihr Gesicht gab, starb 1972 an einer Lungenembolie. Im gleichen Jahr brachten Bau, Steine, Erden Ton, Steine, Scherben ihre legendäre Platte heraus. Dazu gibt es jetzt in der Browse-Galerie in der Kreuzberger Marheinekehalle eine Ausstellung, unter anderen mit Fotos aus der WG-Zeit am Landwehrkanal. Der Beitrag im Tagesspiegel beschwört mal wieder die Verbürgerlichung durch Historisierung und Kanonisierung, es gebe jetzt sogar schon eine Rio-Reiser-Straße. Na, da hört sich doch alles auf. Seit Mozarts Zeiten hat es sich bewährt, dass revolutionäre Musiker anonym im Armengrab verscharrt werden. Bitte keinen Personenkult. Ist doch mal eine nette Abwechslung, dass man Straßen nach Linken benennt, die ihr Leben ausleben durften und nicht im KZ ermordet wurden oder in der Badewanne ertranken.

Weitere Kandidaten für Jubiläen der Pop und Alltagskultur wären ferner: 1952 -60 Jahre Wir werden das Kind schon schaukeln mit Heinz Rühmann oder John Steinbecks Jenseits von Eden. Man stelle sich vor, Rühmann hätte die Rolle anstelle von James Dean bekommen. 1962 WM Chile – 50 Jahre Juskowiak. Und im Oktober geht’s wieder gegen Schweden. 1972 – 40 Jahre Erste Folge von Raumschiff Enterprise im westdeutschen TV oder Gründung der Universität Tromsø (unendliche Weiten). 1982 – 30 Jahre Ein bißchen Frieden von und mit Nicole. 1992 – Gründung des Wu Tang Clan.

Die Erkennungsmelodie von Bonanza ist auch bei Youtube zu finden. Everett Sloane, der am Ende kurz zu sehen ist, spielte immerhin in Citizen Kane mit, wie auch Robert Altman bei einigen Folgen von Bonanza Regie geführt hat. Die Stadt, die auf der Karte in Flammen aufgeht, heißt Virginia City. Aufgrund der anmutigen Landschaft (See, Nadelgehölz, Wiesen) tippe ich eher auf Montana denn auf Nevada. Aber wahrscheinlich gibt es längstg drei Dissertationen zu den Außenaufnahmen bei Bonanza. Mein Lieblingsstück auf Keine Macht für Niemand ist der Paul Panzer Blues. Wie Bukowski, bloß zum Mitsingen.

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