Das Drama des begabten Kindes

Mario Götze ist nicht der erste hoffnungsvolle deutsche Spieler, der mit einem Wechsel zum FC Bayern München seine Karriere ruiniert, auf Null abgebremst oder zumindest aus der Bahn gesteuert hat.  Jan Schlaudraff (Saison 2007-08 / 8 Bundesligaspiele / 150 Spielminuten), Alexander Baumjohann (2008-09 / 3 / 90), Mitchell Weiser (2012-15 / 16 / 914), Jan Kirchhoff (2013-14 / 7 / 82), Sebastian Rode (2014-16 / 38 / 1359) heißen die Opfer der letzten Jahre. Alle hatten vor ihrem Engagement bei Bayern eine tragende Rolle in ihren Vereinen oder dort sehr jung eine sehr gute Saison gespielt.

Keiner von ihnen würde zugeben, dass der Wechsel zum „Branchenprimus“ ein Fehler war. Zumeist murmeln die Kandidaten auf diese Frage meist mehr oder weniger verkniffen etwas davon, dass sie auf höchstem Niveau arbeiten durften und unglaublich viel dazu gelernt haben. Richtig ist, dass sie nach der langen Bankdrückerei nicht nur mit einer super-super-super Gesäßmuskulatur zu ihrem nächsten Arbeitgeber wechseln. Auch eine berufliche Perspektive als Gebietsleiter im Außendienst für diejenigen ergonomischen Sitzmöbel, die man so ausgiebig kennenlernen durfte, ist nach dem Ende der sportlichen Laufbahn für den langfristig planenden Profi von heute ein echter Zugewinn. Mitchell Weiser ist im zarten Alter von 22 Jahren immerhin schon dreifacher Deutscher Meister.

Bei Mario Götze ist alles ein bißchen anders. Als Siegtorschütze in einem WM-Finale ist er eine lebende Legende, kein hoffnungsvolles Talent. Ohne die Fähigkeiten der anderen hier Genannten zu schmälern ist es fair zu sagen, dass Götze mit außergewöhnlicher Begabung ausgestattet ist. Gleichzeitig ist Götze alles, bloß kein Star zum Anfassen. Ihn kann ich mir gut vorstellen, wie er frisch gefönt im weißen Tennispullover mit V-Ausschnitt aus dem Wellnessbereich des privaten Tennisclubs geschlendert kommt. Der Parkplatzboy fährt den Lamborghini vor, Götze drückt ihm 100 Euro in die Hand und sagt: Stimmt so. Das mag völlig falsch sein, genauso wie es falsch sein kann, dass Cristiano Ronaldo ein testosterongesteuerter Möchtegernmarshall ist, auch wenn er sich so hinstellt, wenn er einen Freistoß tritt. Götzes Tor gegen Argentinien ist jedenfalls paradigmatisch für seine Spielweise und die Spielweise der Nationalmannschaft, der er angehört. Helmut Rahns Schuß aus dem Hintergrund war der Glücks- und Verzweiflungsschuß der kriegsgeprägten Generation der fünfziger Jahre. Der ehrliche Malocher, Sohn eines Bergmanns, Kind des Ruhrgebiets und des Wirtschaftswunders, haute ihn irgendwie rein, so wie man in den Jahren davor irgendwie über die Runden gekommen war. Gerd Müllers Tor gegen Holland verdichtet die siebziger Jahre in einem Augenblick: Popo raus, irgendwie im Liegen, Vorlage von Bonhof, einem Gladbacher. Das alles unter dem Dach dieses atemberaubenden Stadions, das ein so wirkungsmächtiger Gegenentwurf zu jeder Art von Großmannssucht war.  Andy Brehme steht für den Stil der Ära Matthäus: Spielfreude durch Kraftmeierei. Loddar, Ruuudi und die anderen waren keine Rumpler, vor allem nicht bei der WM 1990. Aber vielleicht doch eher Atlético als Real, eher Hansdampf als filigran. Und 2014 dann Götze, dessen Vater kein Bergmann ist, sondern als Professor im modernisierten Ruhrgebiet irgendwas mit Medien macht. Bei seinem Kabinettstückchen in Rio machte Mario Götze nicht nur alles richtig, sondern auch bezaubernd schön. Außer Maradona fällt mir keiner ein, der in so einem Spiel so ein Tor hätte schießen können.

Wirklich schade, dass dieser Götze (2012-16 / 114 / 7377) bei Bayern nur eine Randfigur ist. Oder war das gewollt? Ist Götze auf der Bank für Bayern wertvoller als bei Dortmund in der Startelf? Im Wirtschaftsleben ist diese Strategie nichts besonderes. Ständig werden Patente aufgekauft, damit sie von der Konkurrenz nicht kommerziell verwertet werden können. Warum nicht also aus einer funktionierenden Mannschaft das Ausnahmetalent herauslösen, um es bestens dotiert als Randfigur versauern zu lassen? Bayern kann für einen Spieler, den man nicht braucht und den man nicht will, mehr Geld ausgeben als andere Vereine für ihren gesamten Kader. Matthias Sammer formulierte das Selbstverständnis der Bayern im Februar 2015 so: „Wir kommen jetzt in die ganz heiße Saisonphase, das muss uns bewusst sein, da müssen wir den Maschinenmodus und nicht den Gefühlsmodus anwerfen. […] Jetzt zählt kein Gefühl, wir müssen gnadenlos gierig sein und wieder in diesen gnadenlosen Rhythmus kommen.“ Auch wenn Sammer ernsthaft erkrankt ist und ich ihm baldige Genesung wünsche, bin ich froh, dass derartig unmenschliche Formulierungen seltener zu hören sind, seit er bei Bayern nicht mehr in der ersten Reihe steht.

Selbst schuld, könnte man zu Götze jetzt sagen, er ist ja nicht verschleppt worden. Er wollte zu den Bayern, genau wie Baumjohann, Weiser, Rode und die anderen. Aber ganz langsam zeigen die Spieler der neuen Generation, dass sie es nicht als den Höhepunkt ihrer Laufbahn empfinden, bei München außen vor zu sein. Auch auf dem Branchenprimuskocher wird nur mit Wasser gekocht. Gianluca Gaudino (2014-15 / 8 / 373) wurde 2015 in die super-super-super Regionalliga degradiert und ließ sich Anfang 2016 für eineinhalb Spielzeiten nach St. Gallen ausleihen. Pierre Emil Højbjerg war schon zweimal ausgeliehen und will endgültig weg, genau wie Rode, der es aus dem Kreise der oben genannten Teilzeitprofis immerhin auf eine vierstellige Minutenzahl in zwei Spielzeiten brachte. Vereinstreue wird schnell als Anachronismus denunziert, ein Korb für einen größeren Verein als mangelnder Ehrgeiz. Benedikt Höwedes, der nicht schon dreimal Deutscher Meister war, bezeichnet sich im kicker-Interview am Donnerstag als „ein bißchen Fußballromantiker“, weil er den für ihn optimalen Bedingungen auf Schalke den Vorzug gibt vor als beispielsweise einer lieblos abgenudelten Meisterfeier mit lauwarmen Bier auf einem viel zu engen Balkon.  Dabei sollte man als Spieler doch vor allem eins wollen: spielen.

Götzes Rückkehr zu Dortmund ist ein Ding der Unmöglichkeit – die erdige Fankultur in Lüdenscheid mag keine global player, die überall zuhause sind. Also soll Götze jetzt aus München abserviert werden, möglichst so, dass er keine allzu große Delle in der Transferbilanz hinterläßt. Um so erfreulicher, dass Götze darauf offenbar keine Lust hat und dabei auch noch Unterstützung von Joachim Löw erfährt. Der FC Bayern inszeniert sich gerne als große Familie, in der Causa Götze erinnert er an eine Rockerdisco mit Kim Il McRummenigge als Rausschmeißer. Wenn Götze so dringend gehen soll, warum nicht ablösefrei? Dortmund drei Jahre lang zu schwächen, das sollte doch 35 Millionen wert gewesen sein.

Meine Geheimfavoriten (3)

Meine Geheimfavoriten sind alle schon raus. Ghana und Bosnien-Herzegowina in der Vorrunde, die Schweiz und Chile im Achtelfinale. Bis auf Ghana alle unglücklich, alle knapp. Ghana hätte gegen Portugal gewinnen müssen, aber wer gar kein Vorundenspiel gewinnt, der fliegt dann halt auch mal raus. Bosnien-Herzegowina hat mir sehr gut gefallen, ich hoffe, die sind bei der EM 2016 dabei. Die Schweiz hat gerade eine Goldene Generation, aber Hitzfeld zu ersetzen, wird schwierig. Jemand hat getwittert, Hitzfeld sei kein wirklich großer Trainer gewesen, weil er taktisch nichts Neues kreiert habe. Hitzfeld hat mit zwei verschiedenen Mannschaftendie Champions League gewonnen, das haben nicht so viele neben ihm geschafft. Und seine große Stärke war es, die Spieler stark zu machen, die er hat. Es ist richtig, er war kein Systemtrainer, er war ein Spielertrainer, kein Taktiker, sondern ein Psychologe, und hat es geschafft, dass su unterschiedliche Spieler wie Riedle, Linke, Kuffour, Ricken über sich hinauswachsen konnten.

Chile war von den vier Geheimfavoriten der Stärkste. Nächstes Jahr sind sie Gastgeber der Copa America, da rechnen sie sich etwas aus mit dem Heimvorteil. Wenn der Schiedsrichter nicht die zwei Tore Mexikos gegen Kamerun aberkannt hätte, wäre Mexiko Gruppenerster geworden und Holland oder Brasilien wären jetzt schon raus, Chile oder Mexiko im Viertelfinale.

Alle acht Gruppensieger sind weiter gekommen sind, aber sollte man nicht vergessen, dass einer davon Costa Rica ist. Es wäre natürlich viel lustiger, wenn Holland gegen Costa Rica rausfliegt als gegen Mexiko. Einen klaren Favoriten gibt es nicht, das ist nicht erstaunlich, aber ist die WM deswegen sportlich weniger wert? 1998 quälte sich Frankreich durchs Achtelfinale und gewann durch ein Golden Goal von Laurent Blanc gegen Paraguay. Zidane sah in der Vorrunde eine Rote Karte. Trotzdem hat die Mannschaft mit dem international völlig unbekannten Trainer Aimé Jacquet einen neuen Stil begründet und viele große Spieler hervorgebracht. Karembeu, Djorkaeff, Lizarazu, Barthez, das war eine Weltauswahl in Bleu Blanc Rouge. Jacquet war äußerst bescheiden, was seine Leistung anging, und meinte einmal, eigentich bräuchte die Mannschaft keinen Trainer, die wüssten selbst, was sie zu tun haben. Jetzt ist der Boss auf dem Platz von damals, Didier Deschamps, der Trainer von heute auf der Bank. Und er macht seine Sache sehr gut. Aus überwiegend unbekannten Spielern formt er Schritt für Schritt ein Team. Vielleicht hilft es sogar, dass Ribéry nicht dabei ist. Auch die Spanier wuchsen erst dann zu einer großen Mannschaft, als Rául nicht mehr dabei war. Beide Spieler sind alles andere als Stinkstiefel, aber vielleicht waren sie zu groß, zu übermächtig, damit eine neue Mannschaft entstehen kann. Bei Bayern und Schalke waren sie zunächst die New Kids On The Block.

Trotz der bisher gezeigten ordentlichen Leistungen denke ich nicht, dass Frankreich weiterkommt. Der Auftritt gegen Nigeria war schon ziemlich halbherzig. Aber in zwei Jahren, im eigenen Land, das könnte wieder etwas werden. Ferner hoffe ich auf einen Sieg der Fliegenden Kolumbianer gegen Brasilien, befürchte, dass Costa Rica gegen Holland der Sprit ausgeht, und meine, dass Belgien auch die Argentinier jugendlich leichtsinnig überrennen wird. Was dann wie 2010 drei europäische Mannschaften ins Halbfinale brächte. Das kann eigentlich auch nicht sein. Fliegt Holland doch raus. Mir auch recht.

Die Mannschaft lebt, Charlie Brown

Nachdem ich gestern in der Süddeutschen Zeitung ARD und ZDF Beweihräucherung der deutschen Mannschaft vorgeworfen habe, kann ich jetzt Boris Büchler schlecht wegen vermeintlich hyperkritischer Fragen an Per Mertesacker kritisieren. Büchler ist einer der Lichtblicke beim Umgang mit Interviewpartnern. Aber ich kann Mertesackers Reaktion bei diesem kleinen Scharmützel verstehen. Seine Gegenfrage: „Wollen Sie, dass wir toll spielen und dann wieder rausfliegen?“ war großartig.

Mir fällt jetzt leider nicht ein, welcher Trainer gesagt hat, dass man auf dem Platz dauernd denken muss, dauernd überlegen muss, was man tut, damit man gewinnt, und wenn man aufhört zu denken, verliert man das Spiel. Klingt irgendwie nach dem Kopfarbeiter Guardiola, aber vielleicht war es auch jemand anderes. Löw? Ancelotti? Tuchel? Die deutsche Mannschaft jedenfalls hat genug von rauschhaften Siegen. Wer sich in einen Rausch spielt, denkt nicht nach. Alles läuft von allein, jeder Schuß ein Treffer. Alle jubeln, alles schick. Wenn dann das erste Spiel kommt,  nachdem der Rausch verflogen ist, weiß man nicht mehr weiter, dann fliegt man raus, geht an seiner Einfallslosigkeit zugrunde. Wie gegen Spanien 2010 und gegen Italien 2006. Deshalb auch die beinahe betretenen Reaktionen der Spieler nach dem Spiel gegen Portugal. Sind wir schon wieder so weit? Geht das schon wieder los?

Rausch ist keine Strategie. In den beiden schwierigen Spielen gegen Ghana und Algerien haben Löw und seine Spieler nach einer Antwort suchen müssen und jeweils die passende gefunden. Gegen Ghana setzten Schweinsteiger und Klose die entscheidenden Impulse, gegen Algerien war es der Superjoker Schürrle, der seit vielen Spielen immer da ist, wenn man ihn braucht. Es ist schön zu sehen, wie sich die drei „Engländer“ Özil, Schürrle und Mertesacker weiterentwicklen, auch wenn ihre Vereine keine ganz große Saison hatten.

Nach dem Ausscheiden von Mustafi spielte die alte Doppelsechs Khedira/Schweinsteiger und Lahm war endlich wieder außen. Also die Grundausrichtung von 2012. Entscheidend daran ist der zwischenzeitliche Lernprozess. Wenn sie mit dieser Startelf angefangen hätten, die Platzhirsche Khedira und Schweinsteiger durchgeschleppt hätten, bloß weil sie immer schon so gespielt haben, dann wäre das zu wenig durchdacht gewesen. Gedankenlos. Jetzt, nach vier Spielen mit vier verschiedenen Aufstellungen, spricht tatsächlich alles dafür, Lahm nach außen zu ziehen, schon allein, weil Kramer ja auch noch da ist. Der gab als WM-Debütant eine sehr entschlossene Figur ab, patzte hinten nicht und tummelte sich ab und zu auch vorne.

Dieses hart umkämpfte, klug herausgespielte und glückliche 2-1 gegen wirklich grandiose (und im Abschluß zu schlampige) Algerier hat einen sportlich viel höheren Stellenwert als die beiden überlegen geführten Spiele gegen England und Argentinien 2010. England ist seit 1996 ein Schatten früherer Tage, Argentinien stand vor vier Jahren im ganzen Turnier neben sich. Das führt zu der Frage, wie die Fußballöffentlichkeit hierzulande die Gegner einschätzt (erster Impuls immer noch: Die hauen wir weg) und welche Art von Spiel sie glücklich machen würde. Wer erwartet denn heutzutage noch Kantersiege in einem Achtelfinale? Bei dieser WM gab es zwei Spiele mit zwei Toren Unterschied, zweimal Elfmeterschießen, eine Verlängerung und die Beinahe-Verlängerung bei Holland – Mexiko. Wäre ein Achtelfinale wie gegen Schweden 2006 besser gewesen? Zwei schnelle Tore und dann 80 Minuten lang Ergebnis verwalten gegen einen überforderten Gegner? Dann doch lieber in jedem Spiel gefordert werden.

Natürlich ist es nervenzerfetzend, wenn Neuer viermal im Eins gegen Eins klären muss, aber im Vergleich zu Balotellis 2-0 im Halbfinale 2012 kommt die Mannschaft mit überfallartigen Kontern mittlerweile viel besser zurecht. Außerdem ist eine hochstehende Viererkette mit dem beidhändigsten Libero der Welt natürlich viel aufregender gegen eine tolle Kontermannschaft, als sich am eigenen Strafraum bis zum Stehkragen einzubunkern. Nebenbei: Wenn die Deutschen sich nicht Chance auf Chance erspielt hätten, hätte M’Bohli keine Weltklasseleistung zeigen müssen.

Erfreuliche Kleinigkeiten: Özil glänzt nicht, aber er hat in der zweiten Halbzeit einen defensiven Zweikampf nach dem anderen gewonnen und das entscheidende Tor gemacht. Schweinsteiger kann über 90 Minuten eine WM-taugliche Leistung abrufen. Löw hat im Rahmen der Möglichkeiten seinen Kader klug zusammengestellt. Man kann natürlich die Frage stellen, warum ein so erfahrener und defensiv polyvalanter Spieler wie Gonzalo Castro nicht dabei ist, aber das gestörte Verhältnis des DFB zu Spielern von Bayer Leverkusen würde den Rahmen sprengen.

Gegen Frankreich müssen sie sich wieder etwas einfallen lassen. Ich hoffe Lahm spielt außen, es ist eine andere, bessere Mannschaft, wenn er außen spielt. Schön, das mal in einem Spiel als Kontrast gesehen zu haben. Als Sechser macht er wenig falsch, als Außenverteidiger ist er eine Klasse für sich. Sieben-Titel-Götze dürfte sich hoffentlich aus der ersten Elf gespielt haben. Ich hoffe, Hummels ist wieder dabei und Müller bleibt fit. Und dann – auf zur nächsten Denksportaufgabe.