Ein Tor für die Geschichtsbücher

Samstag 29. Januar 2011, 16.40 Uhr, EasyCredit-Stadion Nürnberg. Freistoß für den 1. FC Nürnberg gegen HSV. Hegeler schlenzt, Rost boxt, der Ball prallt an die Latte, Simons legt quer, Cohen staubt ab, 2-0 für den Club.

Dieses Tor ist nicht deshalb so bedeutsam, weil es den ersten Sieg gegen den HSV seit fünf Jahren und 26 Punkte bedeutete. Man muss sich klarmachen, wo der 1988 in Be’er Sheva geborene Mittelfeldspieler sein Tor erzielte. Das vormalige Franken-Stadion wurde in den zwanziger Jahren als Städtisches Stadion errichtet und befindet sich mitten auf dem erweiterten Reichsparteitagsgelände, ungefähr 200 Meter vom Zeppelinfeld. Des Führers Hauptrednertribüne ist gleich um die Ecke. In diesem Stadion fand im Rahmen der Parteitage der Tag der Hitler-Jugend statt, 1935 sprach Hitler hier von den flinken Windhunden, dem zähen Leder und dem harten Kruppstahl.

Dieses Areal, auf dem die Nazis zum Bacchanal des Bösen in Viererreihen aufmarschieren ließen, ist heute eine merkwürdige Geschichtslandschaft: Bob Dylan spielte hier 1978, die US Army stellte zwischen den überwachsenen Brocken des tausendjährigen Reichs ein paar Field Goals auf, und GIs übten hier die Shotgun Formation und andere Elemene des American Football. Soldier Field war der Spitzname, und eine Picknickwiese für die Familien gab es auch. Das Dokumentationszentrum ist sehenswert, vor allem die tätige Mithilfe der Kommunalverwaltung bei der Arbeit an den Reichsparteitagen an diesem Ort zu sehen, ist wichtig. Wenn man beim Burger King an der Regensburger Straße um die Ecke lugt, sieht man noch deutlich die Silhouette des Nazi-Adlers auf den hellen Steinen. Und jetzt ein Israeli.

Ein Jude, der das Zeug hat, in der Stadt, in der Julius Streicher 20 Jahre lang die Cohn, Hirsch, Huber und Müller Woche für Woche mit Hass überzog, zum Publikumsliebling zu werden. Bisher waren israelische Fußballer in der Bundesliga nur mäßig erfolgreich. Antideutsche Verschwörungstheoretiker würden sagen: Das liegt am Postfaschismus und der ewigen Feindschaft hierzulande, die Juden natürlich spüren. Ich würde sagen: Es liegt daran, dass Israelis nicht ganz so gern und gut Fußball spielen wie andere, auch dehalb, weil Basketball dort die Sportart Nummer eins ist.

Heimlich, still und leise hat sich eine Menge verändert zwischen Deutschen und Israelis in den letzten fünfzehn Jahren. Mitten im Aufbruchsgetümmel im Nahen Osten gibt es Regierungskonsultationen. Schon vor ein paar Jahren bezeichnete Ehud Olmert, zunehmend genervt von der Planlosigkeit der Bush-Administration, Deutschland als wichtigsten Verbündeten Israels.  Mag sein, dass das nur an der Staatsräson und am Kampf gegen den Terror liegt. Einige tausende Israelis leben dauerhaft in Berlin, mit und ohne zweitem, deutschem Pass. Mag sein, dass die Israelis nur kommen, weil im Moment eben alle nach Berlin wollen, und die Stadt schon immer ein bißchen weniger deutsch, weniger Nazi und post-Nazi war wie der Rest des Landes.

Die Verpflichtung von Almog Cohen folgt weder der Staatsraison noch einem sprichwörtlich guten Ruf, den Nürnberg bei Juden hätte. Wenn es eine Stadt gibt, die im historischen Vergleich zu Berlin am anderen Ende des Spektrums steht, dann ist es Nürnberg. Das kleinbürgerlich-protestantische Milieu bescherte den Nazis Spitzenwerte bei den Wahlen vor 1933, dass Streicher seit 1925 genau dort sein schmutziges Handwerk betrieb, dass genau dort bereits vor der Machtergreifung Reichsparteitage gefeiert wurden, ist kein Zufall. Mittlerweile positioniert man sich angenehm zurückhaltend als Stadt der Menschenrechte, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, eher mit nachdenklich gesenktem Haupt. Auch an die welthistorisch bedeutenden Prozesse im Gerichtsgebäude, Menetekel für Kriegsverbrecher von Pinochet bis Rumsfeld, wird seit Dezember 2010 erinnert.

Der ortsansässige 1. FCN, der im Jahr der Nürnberger Gesetze gegen Schalke erster deutscher Pokalsieger wurde – damals hieß das Ding nach dem Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten „Tschammerpokal“ –  hat chronische Geldprobleme. Er muss dort nach Spielern suchen, wo der Tross der Scouts und Berater nicht so oft vorbeikommt, in den Randzonen des Fußballs. Der Koreaner Cha Bum Kun war vor vielen Jahren so ein Glücksgriff aus dem Niemandsland, mittlerweile wollen alle ihren Kagawa oder Park, ihren Lucio oder Emerson sowieso. Es ist ein weiterer absurder Aspekt an der noch recht kurzen Almog-Cohen-Saga, dass ausgerechnet der Lodda, auf den ersten Blick nicht die Inkarnation des Weltbürgertums, zum ersten deutschen Trainer in Israel wurde und dann auch noch Erfolg hatte. Er empfahl Cohen an Manager Bader. Cohen kam, er spielte, seit vier Partien ist er in der ersten Elf.

In der Sky-Reportage am Samstag bezeichnete der Reporter Cohen als „Giftzwerg“, was als Kompliment gemeint war. Auch der ansonsten immer hart auf Höhe der Grasnarbe daherschwadronierende Poschmann verglich beim Viertelfinale gegen Schalke den kleinen Kämpfer mit Gattuso. Cohen ist unglaublich laufstark und er antizipiert gut. Gegen Hamburg stibitzte er ein paar Mal den Ball vom Fuß des Gegners, weil die Hanseaten bar jeder Handlungsschnelligkeit waren an diesem Tag. Wie Gattuso spielt Cohen ausgesprochen fair, läßt aber ansonsten eher Zweikampfstatistiken sprechen als dass er ständig das Gespräch sucht. Die Heckingsche Variante des Tiki-Taka hat er voll verinnerlicht und ähnlich wie Pinola oder neuerdings Wollscheid bringt er die Aggressivität ins Spiel, die den braven Bubis in der Endphase Ära Oenning gefehlt hat.

Wie sehr sich die Dinge verändert haben zeigt der Umstand, dass Cohen bisher weder kopfschüttelnd beäugt noch dutzendfach analysiert wurde. Die Gehirnpolizei fährt nicht auf und untersucht „Giftzwerg“ am nächsten Tag nach seinem antisemitischen Gehalt. Es gibt keine betroffenen Leitartikler, die fragen, ob ein Israeli ausgerechnet in Nürnberg ausgepfiffen, gefoult, bejubelt oder vom Platz gestellt werden darf. Wenn die Clubfans ihrer bisherigen Praxis folgen – auch für den Senegalesen Souleyman Sane und die unsäglich unbegabten isländischen Zwillinge Arnar und Bjarki Gunnlaugsson hatten sie die richtigen Wimpel dabei –  werden wir demnächst israelische Flaggen in der Nordkurve sehen und Hava Nagila hören, wenn’s Almoggerla die Ecken tritt.

Rein ins Getümmel

Vergangenen Sonntag, zum Abschluß des Rückrundenauftakts, gab es eine Neuheit zu besichtigen. Liga total bzw. die Deutsche Telekom hatte eingeladen, Fußball live in 3D zu erleben. Immer die beiden Sonntagsspiele werden in Zukunft in 3D gezeigt, für einschlägig tätige Blogger und sonstiges Fachpublikum, darunter Clubberer Bernd  Krippner von agolnaihaua und zwei Leute von Textilvergehen, gab es den Klassiker 1. FC Kaiserslautern gegen 1. FC Köln. Einschließlich dieser Begegnung trafen die beiden schon 78 mal in der Bundesliga aufeinander. 1991 holten sich die Roten Teufel mit einem grandiosen 6-2 in Köln mit Kalli Feldkamp die Meisterschaft.

Ort der Handlung beim Abstiegsduell war das Andel Hotel in der Landsberger Allee. Dass FC-Fans im Jahr 1235 Neukölln gegründet haben, um näher am zukünftigen Geburtsort von Litti-San und Icke Häßler zu sein, ist ja hinlänglich bekannt, insofern war es für die ein Katzensprung nach Lichtenberg. Die (nur?) zwei FCK-Fans im Publikum kamen wohl aus dem Westteil der Stadt, weil es von da nicht so weit in die Pfalz ist. Vom sechsten Stock hatte meinen einen herrlichen Blick auf die Trasse der Ringbahn und den Fernsehturm im Sonnenuntergang, auf der riesigen Terrasse standen noch immer die Deko-Rentiere und fühlten sich bei sechs Grad über Null sichtlich wohl.

Und dieses 3D? Es hat was. Als amuse-yeux gab es eine Hahnenkamm-Abfahrt, dann wurde es ernst auf dem Betzenberg. Die 3D-Übertragungen werden mit einem eigenen Set von Kameras übertragen und auch separat geschnitten. Die Kameras haben jeweils zwei Objektive und die Brille, die man einschalten muss, legt die beiden Bilder dann übereinander. Die Überblickseinstellungen, die Totalen unterscheiden sich vom herkömmlichen TV nur wenig. Aber sobald die Perspektive ebenerdig wird, verändert sich das Bild. Ob Einwürfe oder Ecken, alles was sich an den Seitenlinien abspielte, brachte einen mitten ins Geschehen, auch die Aufnahmen der Hintertorkamera waren angenehm geerdet. Man merkt plötzlich, wie unübersichtlich es in Strafräumen zugeht, wie schnell die Spieler reagieren müssen und wie wenig sie vom gesamten Spielfeld mitbekommen. Dauernd läuft jemand durchs Bild, es war – gerade bei diesem Kampfspiel mit den vielen Zweikämpfen – aufregend, sich quasi mitten unter den Spielern zu befinden. Die Bildregie experimentierte fleißig und in der zweiten Halbzeit hatten sie einen Rhythmus gefunden, bei dem die Kamera meistens auf Höhe der Grasnarbe blieb und bei langen Bällen und Passagen außerhalb des Strafraums mal kurz hochschaltete, um zu zeigen, wo man sich gerade befand. Ich sitze im Stadion (ja, ich sitze meistens) gerne im unteren Hälfte auf  Gegengerade, damit ich einen guten Überblick habe, doch beim Spiel Dortmund gegen Nürnberg am 15. Spieltag 1992/93 stand ich im Westfalenstadion das ganze Spiel über direkt hinter dem Tor vor der Gästetribüne. Der andere Strafraum war nur am Horizont zu sehen, aber als Eckstein in der ersten Halbzeit das 1-0 für den Club köpfte, sah ich das Weiße in seinen Augen. Knut Reinhardts  Gewaltschuß, der in der 89. Minute das 3-2 für den BVB bedeutete, schlug quasi über meinem Kopf ein. So ähnlich ist das auch in 3D. Und anders als in den lawinenartig hereinbrechenden 3D-Filmen kann man ein Fußballspiel nicht auf Effekte trimmen. Das Kopfballduell kommt oder kommt nicht, das Abstaubertor kann passieren, muss aber nicht.

Den Wischer von Lakic gegen Eichner sah auch in 3D völlig beknackt aus. Da auch versuchte Tätlichkeiten strafbar sind, fand ich Rot  völlig in Ordnung. Er spielt eine tolle Saison, aber hier war Lakic leider ein Depp. Rot für einen Roten Teufel auf dem Betzenberg, das muss man sich erst einmal trauen. Dass die Kölner viel stärker sein werden in der Rückrunde, deutete sich an, wurde mittlerweile durch das 3-0 gegen Bremen bestätigt. Als Podolski nachließ, kam Lautern auf (oder war es umgekehrt?). Jedenfalls verdiente sich der FCK den Punkt zurecht. Zuhause sind sie wie in alten Tagen zu allem fähig, und selbst, wenn Lakic geht, wird Kuntz einen anderen aus dem Hut zaubern.

Einziger Schwachpunkt war wie so oft Jörg Dahlmann. 90 Minuten haltloses Gelaber waren jenseits aller Schmerzgrenzen. Als er nach 80 Minuten von einem „richtig guten Spiel“ sprach, gab es höhnisches Gelächter im Publikum, das den Abstiegsfight bekommen hatte, den es erwartet hatte. Dahlmann behauptete auch, das Spiel sei so mitreißend, weil es in 3D übertragen würde. Nice try. Aber wenn er wirklich im Stadion saß, um sich das Spiel dort mit Brille anzusehen, dann muss er mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen sein.  Aber man kann 3D ja auch ohne Ton und hoffentlich für alle Zukunft ohne Dahlmann-Hologramm sehen, das neben einem auf dem Sofa sitzt und die Nüßchen wegfrißt. Nachdem mir Pay-TV im Moment nicht ins Haus kommt, um nicht die schäbigen Reste eines funktionierenden Soziallebens zu gefährden, werde ich auf die erste 3D-Kneipe warten müssen.