Abstieg ist Chefsache

Aus Gründen war dieser Blog einige Monate nicht aktiv und auch nicht zu erreichen. Kurz nach meinen Zweifeln an Kimmich machte dieser begabte, aber übereifrige Bub zusammen mit dem hinkenden Schlachtross Schweinsteiger die entscheidenden Fehler im Halbfinale gegen Frankreich. So war ich in der Lage, auf dem Musikfestival in Rudolstadt entspannt von Bühne zu Bühne zu schlendern, während Portugal die bittere Medizin aus dem Jahr 2002 den diesmal gastgebenden Franzosen verabreichte.

Der 1. FC Nürnberg hat einen neuen Trainer. Er heißt Alois Schwartz, und seine Auftaktbilanz meißelte auch Kummer gewohnten Fans die Sorgenfalten ins Gesicht. Mittlerweile sieht die Situation wieder etwas besser aus, allerdings ist der Club in dieser Saison nach wie vor die Mannschaft, die am häufigsten einen Vorsprung hergeschenkt hat. So landet man am Ende nicht einmal auf Platz 3.

In der Bundesliga hat der größte Innovator der letzten Jahre, Ralf Rangnick, nach Hoffenheim auch RB Leipzig an die Tabellenspitze geführt. Die Bayern werden Leipzig in dieser Saison nicht das Wasser reichen können. Sie sind ein heißer Abstiegskandidat, und Die Rückkehr des Wurstfabrikanten (der vierte Band, den Tolkien niemals schreiben wollte) wird die Lage nur noch verschlimmern.

Natürlich sollte Uli Hoeneß unbedingt und sofort alle freien Ämter beim FC Bayern besetzen: Präsident, Aufsichtsratvorsitzender, Eisverkäufer im Oberrang, Financial-Fair-Play-Beauftragter, Mannschaftsarzt. Mit ihm an der Spitze bekommt die schwere Krise des FCB jene Tiefe, die echte Königsdramen auszeichnet. Hier die Gründe für die Krise:

1 Die Mannschaft ist überspielt und hat zu viele Verletzte. Es gibt zu viele Beliebigkeitslemuren: Bernat, Martinez, Alonso, Costa und viele andere geben dem Spiel mal dies, mal das, aber kein Gefüge und Gepräge.

2 Man ist in der Offensive zu sehr von Lewandowski und in der Defensive zu sehr von Neuer und Boateng abhängig. Sie nehmen sich ihre Auszeiten und schwächeln regelmäßig in entscheidenden Situationen. Auch, wenn Oliver Kahn jeden Neuer-Patzer als „unhaltbar“ gesundbetet.

3 Schalke, Dortmund, Köln, Leipzig, Leverkusen und noch ein paar Vereine haben eine professionellere sportliche Leitung als den ewigen Polterer und Haudrauf Kim-Il McRummenigge. Der desginierte Ersatzmann für die Außendarstellung, besagter Hoeneß, wird auch bald wieder poltern.

4 Zahlreiche Mannschaften haben sich systematisch verstärkt. Ancelotti hat zu Saisonbeginn darauf bestanden, dass der Kader stark genug ist. Dabei ist Sanches ist zu jung, um gleich eine Verstärkung zu sein, Hummels hat seinen Zenit längst überschritten, ebenso wie Lahm. Kimmich ist kein Führungsspieler, genauso wenig wie Ribéry. Letztere spielen nur dann gut, wenn die Mannschaft eine Spielidee hat.

5 Weil der FC Bayern bei der Europameisterschaft ganz alleine vorzeitig ausgeschieden ist (Kimmich), steckt auch nur seinen Spielern dieses Tunier in den Knochen. Das ist sowas von unfair, dass ich mich frage, warum man nicht schon seit Wochen auf diesem Umstand herumreitet. Bayerischer Rundfunk, was macht ihr eigentlich für die teuren Gebühren?

6 Rein statistisch ist eine Krise einfach mal fällig. Das ist im Kapitalismus so.

7 Ancelotti hätte Zeit gebraucht, um den Pep rauszutrainieren. Viel Zeit hat er nicht mehr. Dass ihm etwas Eigenes einfällt, ist nicht abzusehen. Außerdem spricht er nicht so fließend perfekt akzentfrei Deutsch wie Guardiola, der damit alle um die Finger habe super-super chewickelt.

8 Guardiolas entscheidendes Vermächtnis ist es, Müller-Wohlfahrt weggeekelt zu haben. Ohne Mull, ob Nackt- oder angezogen hat es jede Mannschaft schwer.

9 Das heimliche Maskottchen, Thomas Müller, steht vollkommen neben sich. Und niemand ist in der Nähe, der ihm in die Spur zurück helfen könnte. Der Raumsucher muss sich erst wieder selbst finden.

10  Die Fans mögen es nicht, dass durch eine Elite-Europaliga die Bundesliga schlecht geredet wird. Dieser „Schmarrn“ und seine heimliche Hauruck-Implementierung zeigt, dass der FCB keine klare Idee mehr von sich selbst hat. Die Idee einer Konkurrenz-Liga mit Benelux- und skandinavischen Teams finde ich hervorrangend. Wenn man die schottischen, türkischen und israelischen Mannschaften noch dazu nimmt, hätte man einen wunderbaren Wettbewerb.

11 Der Fußballgott verzeiht vieles, aber er vergißt nichts. Mit Hoeneß an der Spitze hätte sich der FCB eine Extrawurst zu viel genehmigt. Das hat sich bei engen Spielen bereits ausgewirkt, war aber erst der Anfang vom Ende.

12 Und was macht eigentlich Franz Beckenbauer?

Kroos und Özil – Zu viel Qualität auf engstem Raum

Ein Mangel, den einige bei dieser EM ausmachen, ist die geringe Torausbeute. Kantersiege in der Vorrunde sagen allerdings kaum etwas über die Qualität eines Turniers aus.  Bei der WM 1994 gewann Russland sein drittes Gruppenspiel gegen Kamerun mit 6-1, Oleg Salenko erzielte fünf Tore und wurde später (zusammen mit Hristo Stoichkov) Torschützenkönig. Allerdings war Russland nach zwei Niederlagen in den ersten beiden Spielen bereits ausgeschieden, als Salenko seine Ninety Minutes of Fame hatte.  In Frankreich sind die Ergebnisse meistens eng und fast alles ist offen: Von 24 Spielen endeten acht Unentschieden, neunmal gewann eine Mannschaft mit einem Tor Unterschied, fünfmal mit zwei Toren, zweimal mit drei Toren. Bis auf die Ukraine können alle Mannschaften noch weiterkommen. Das Leistungsniveau ist für viele überraschend vollkommen ausgeglichen, auch wenn Spanien und Belgien im zweiten Spiel ihre Gegner Türkei und Irland dominierten.

Polen konnte bisher seine beeindruckende Qualifikation bestätigen. Nicht durch Übefliegersiege, sondern weil sie als Mannschaft extrem gut gegen den Ball arbeiten und – wie viele anderen Mannschaften auch – technisch ansprechend und leidenschaftlich antreten. Gegen die bundesdeutsche Auswahl ergab das ein Nullzunull der besseren Sorte. Das Spiel erinnerte mich an das WM-Finale 1994, als sich Brasilien und Italien 120 Minuten nahezu fehlerfrei beharkten. Kein episches Endspiel, kein Tor für die Ewigkeit – damals gab es Elfmeterschießen, am Donnerstag eine Punkteteilung.

Einschließlich des Vorbereitungsspiels gegen Ungarn, das vielleicht gar nicht so sehr ein Muster ohne Wert war wie vor dem Turnier angenommen, ist La Mannschaft jetzt seit drei Spielen ohne Gegentor. Zumindest das Defensivverhalten spielt sich langsam ein, der Verbrauch von Glück verlangsamt sich. In der Offensive wirkt die taktische Ausrichtung allerdings noch etwas diffus, weil sich zwei gute Spieler bisher dort im Weg standen. Thomas Müller bräuchte eine schöpferische Pause. Er wirkte schon in den letzten Wochen der Bundesliga-Saison überspielt und erschöpft und war gegen Polen nur ein fleißiger Schatten seiner selbst. Mario Gomez ist in seiner Zeit im Ausland gereift und wirkt nicht mehr so schnöselhaft wie einst. Wenn er allerdings mehr sein soll als ein Fremdkörper, muss er in die Startelf. Und er braucht Spieler, die ihn füttern, was für Schürrle in der Startelf spricht. Götze oder Draxler könnten dann statt Müller über rechts spielen, Özil wäre draußen.

In diesen Tagen, in denen kein Tag ohne pflichtgemäßes Sich-Echauffieren über Erdogan vergeht, haben viele „den Türken“ als vermeintlichen Schwachpunkt des Offensivspiels ausgemacht. Özil zeigt immer noch seine leicht phlegmatisch wirkende Körpersprache, trat aber in beiden Spielen extrem mannschaftsdienlich auf, gewann einige wichtige Zweikämpfe und trieb unermüdlich an. Sein Standing leidet auch darunter, dass er zu sehr an seinen genialen Momenten gemessen wird, eine gute Leistung reicht bei ihm nicht. Ich bezweifle, dass das Schwungrad der Offensive durch Özil und Kroos ganz vorne in Gang gebracht werden kann. Kroos mit seinen Schnittstellenpässen, Flankenwechseln und Schüssen aus der zweiten Reihe wäre der passende Mann für Schürrle und Gomez. Wenn Özil den zentralen Offensivmann geben soll, müßte Kroos sich weiter nach hinten orientieren und hätte dadurch noch bessere Steuerungsmöglichkeiten aus der Tiefe des Raums. Vor ihm könnte es dann die wuselige Variante sein mit Götze, Sané und eben Özil, dessen signature move nicht der 30-Meter-Diagonalpass aus dem Fußgelenk ist, sondern das Dribbling im und am Strafraum, wo er dann mit minimalinvasiven Kurzpässen die Lücke findet. Özil floats like a butterfly and stings like a bee, auch wenn er gerade 22 Kilogramm leichter ist als Ali beim Rumble in the Jungle. Özil und Kroos können beide spielen, aber nur einer kann der offensive Taktgeber sein, der dem Spiel seine Handschrift verleiht. Rückt Kroos nach hinten, wäre Khedira, der gegen Polen etwas fahrig auftrat, erst einmal draußen.

Für die erste Variante spricht, dass die Saison von Kroos noch etwas besser war als die von Özil, dass Gomez starten müsste und dass gegen die Nordiren wenigstens ein kopfballstarker Spieler vorne mit dabei sein sollte. Wohl dem, der solch ein Luxusproblem hat. Kein Wunder, dass der Bundestrainer lächelt.

Sich einen runterhoolen – eine alte abendländische Tradition

Elf Anmerkungen zum bisherigen Verlauf der EM (Spiel 1 bis 10, ohne Gruppe F):

1.) Es noch gar nicht so lange her, da wurde hierzulande der Untergang des Abendlands beschworen, weil in deutschen Innenstädten Korane verteilt wurden. Die Reaktionen auf die völkervertrimmenden Krawalle in Frankreichs Innenstädten fallen im Verhältnis dazu reichlich verhalten aus. Ist halt alte abendländische Tradition, sich in überbordender Männlichkeit gegenseitig die Fresse zu polieren. Die russischen Hooligans haben sich vor Gericht ebenso in Luft aufgelöst wie einst die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Mit dem schlimmen Wort von der Lügenpresse hat das natürlich nichts zu tun, es handelt sich lediglich um bedauerliche Recherchefehler.

2.) Die Vorberichte im ZDF zum Eröffnungsspiel fielen dadurch auf, dass die Equipe Tricolor keinen Gegner hatte. Kein Wort über Rumänien, auch nicht über den Trainer Anghel Iordanescu, der  immerhin zweimal den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League gewann. Stattdessen tatsächlich bewegte Bilder vom WM-Halbfinale 1982 mit Marius Trésor, aber kein rumänischer Studiogast. Warum nicht Dorinel Munteanu, als Trainer mit Galati rumänischer Meister 2011? Ansonsten teilweise recht gute Spielberichte (Claudia Neumann) und auch eine sehr realistische Kommentierung der Leistung der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine (Gerd Gottlob). Selbst Tom Bartels war erträglich. Dazu noch ein O-Ton: Die Welt: Wie läuft eine Turniervorbereitung für Sie? Béla Réthy: Da gilt es, so viel wie möglich über die Teams zu recherchieren und wichtige Daten zusammenzutragen. Ich kann es kaum erwarten.

3.) Die Chance, als Gruppendritter weiter zu kommen, ermuntert die meisten Mannschaften, offensiver zu spielen. Man hat nicht den Wahnsinnsdruck, mit einer Auftaktniederlage gleich alles versaut zu haben. Ausnahmen wie Spanien 2010 bestätigen diese Regel. Bisher fallen die sogenannten Fußballzwerge in keinster Weise negativ auf. Es ist eben nicht die dritte, sondern die erweiterte zweite Reihe, die dabei ist: WM-Dritte wie Rumänien und die Türkei und große Fußball-Nationen, die in letzter Zeit wenig gerissen haben wie Ungarn, Tschechien und Portugal. Man weiß bis zum Schluß der Vorrunde nicht, gegen wen es geht. Hat Charme, dieser Modus.

4.) Das beste Spiel – bevor die Gruppe F an den Start ging – war Belgien gegen Italien, aber gleich danach kam für mich Wales gegen die Slowkei. Zwei gleichstarke Gegner, die alles probierten. Dazu der verdiente Sieger Wales, der in der Lage war, nach dem Ausgleich sehr schnell taktisch und spielerisch zu reagieren. Alle Spiele sind sehr fair, auch ein Zeichen dafür, wie viel besser das technische Niveau geworden ist.

5.) Die Engländer haben eine Mannschaft zum Liebhaben: Alli, Sterling und die anderen jungen Wilden sind mit heißem Herzen und spielerischer Leichtigkeit dabei. Aber mit dieser Chancenverwertung werden sie nicht weit kommen. Die ultimative Kränkung wäre es, wenn eine der anderen Mannschaften von den Inseln weiterkommt und die Three Lions nicht. Wales is waiting.

6.) Der Turnierstart der deutschen Mannschaft war besser als erwartet. Und dann auch noch zu Null, nach dem fröhlichen Scheibenschießen in den letzten zwei Jahren. Zu sehen gab es sehr viel Glück, einen sehr guten Neuer und schon ziemlich viele Ideen in der Offensive. Özil kommt in der allgemeinen Einschätzung zu schlecht weg. Er hat gerackert für drei und Schweinsteiger das 2-0 präzise aufgelegt. Nach all dem Hype um Odonkor wegen einer guten Flanke 2006 hat Özil mehr Respekt verdient. Ich hätte mir gewünscht, dass Boateng Kapitän ist, das wäre mal eine Ansage gewesen. Und Schweinsteiger hat immerhin schon Luft für sieben Minuten. Das läßt hoffen für die 1113. Minute in einem KO-Spiel.

7.) Eine seltsame Stimmung liegt über dem Turnier. Die EU steht möglicherweise vor ihrem Zerfall, mit zwei Teilnehmern – Türkei und Russland – gibt es massive Konflikte, allenthalben dräut und droht ein terroristischer Anschlag. Die Leute feiern, aber selten war es bei einem Turnier so deutlich zu spüren, dass Fußball eine Nebensache. Eine EM am Vorabend. Aber von was?

8.) Am besten trat neben den aus dem Nichts wieder erstarkten Italienern bisher Kroatien auf. Technisch überragend, in den Zweikämpfen giftig, aber nicht brutal, immer in der Lage, das Spiel zu machen. Und gespickt mit hervorragenden Einzelspielern: Srna, Mandzukic, Modric.

9.) Die Schiedsrichterleistungen sind bisher überwiegend gut. Bis auf den übersehenen Ellbogen von Giroud beim 1-0 gegen Rumänien gab es praktisch keine Fehlentscheidungen. Noch beeindruckender: Es scheint, die Schiedsrichter haben sich auf eine gemeinsame Linie geeinigt – wenige Karten, viel laufen lassen, sehr viel reden. Das gab es noch nie: Die Spielleiter verpassen einem Turnier ihre spielübergreifende Handschrift.

10.) Ibrahimovic hat den Ausgleich der Schweden erzwungen, aber ingesamt kommt es mir so vor, als sei das Modell 1 Superstar und 10 Wasserträger ein Auslaufmodell. Rooney ist ein mannschaftsdienlicher Kükenhirte geworden, Bale zerstreut erfolgreich seinen Kultstatus, Schland und Kroatien kommen ohne Superstar gut zurecht. Mal sehen, wie sich CR7 hineinfindet in seine Rolle als leader of the pack einer neuen Generation.

11.) Die Franzosen sind deutlich verbessert im Vergleich zu den letzten Turnieren. Sie tragen ihre Last der Erwartungen bisher mit mehr Esprit als die Brasilianer vor zwei Jahren. Aber Les Bleus werden ohne Zidane für mich immer unvollkommen sein. Wie ein Orchester ohne Violinen, ein Wald ohne Vögel, ein Essen ohne Gewürze. Trotz Lahm und Klose, Xavi und Iniesta, Buffon und Pirlo, bleibt Zizou die überragende Persönlichkeit der letzten 20 Jahre. Diese französische Mannschaft könnte aus seinem Schatten treten.