Pfeifen im Blätterwald

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Hertha hat es vorgemacht, wie man gegen Bayern erfolgreich Widerstand leisten kann in dieser Saison. Zweimal haben sie unentschieden gespielt. Am Samstag reichten Grundelemente der Defensivarbeit, um einen Punkt aus München zu entführen und die Liga wieder spannend zu machen: Laufbereitschaft, gute Raumaufteilung, ein starker Torwart, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Zweikampfstärke. Außerdem hatte die Alte Dame einen Schiedsrichter, der ihr die Leistung nicht kurz vor Schluss versaute. Auch das Spiel in Wolfsburg eine Woche zuvor hätte unentschieden ausgehen müssen. Aber da ließ Schiedsrichter Sascha Stegemann beim Schwälbchen von Arjen Robben Großzügigkeit walten, und Robert Lewandowski vollstreckte. Der Faller mit Armwedeln von Lewandowski in der 87. Minute gegen Hertha reichte für Guido Winkmann nicht. Auch mit seinen 34 Jahren fällt in der Liga niemand überzeugender als Robben. Schon wegen seiner Schwalben, die in jeder Saison für zwei bis drei Bayern-Siege gut sind, sollte man ihm einen neuen Vertrag geben. Mit dem überzeugenden 2-0 von Schalke in Leverkusen ist die Liga wieder spannend geworden. 20 Punkte, das hört sich nach viel an, aber fünf der Gegner des FCB heißen Dortmund, Leipzig, Augsburg, Gladbach und Frankfurt. Wenn man davon ausgeht, dass stetig schwächelnde Bayern diese Spiele verlieren, sind es noch fünf Punkte und fünf Spiele.

Der Verfall einer Familie

Bayern schwächelt seit Wochen. Gegen Beşiktaş brauchten sie einen Platzverweis und danach noch mehr als zwanzig Minuten, um das erste Tor zu erzielen. Gegen Hertha elf gegen elf fiel ihnen gar nichts mehr ein. Der beste Stürmer Kinglsey Coman hat sich schwer verletzt. Der zweitbeste, Lewandowski, bereitet offenkundig seinen Abgang vor. Die ehemals glänzenden Robbery können nicht mehr viel mehr als Zuschlagen und Hinfallen. Jupp Heynckes sehnt seinen Ruhestand herbei. Die medizinische Abteilung ist seit dem Mobbing von Guardiola gegen den Mull ein Schatten ihrer selbst. Ein Plan für die neue Saison ist nicht zu erkennen. Um den Dauerverletzten Manuel Neuer wird ein Eiertanz aufgeführt, der die WM-Ambitionen in Gefahr bringt. Das ist kein Horrorszenario, das sind Selbstverständlichkeiten, die die Spatzen von den Dächern pfeifen, die man eigentlich in jedem seriösen Sportteil jede Woche erörtert sehen möchte. Die Bayernblase bietet in der Zwischenzeit Streicheleinheiten für die Spitzenmannschaft von ehedem. Die Welt veröffentlichte gestern einen nahezu sinnfreien Text, der versucht, die Genervtheit von Heynckes in der Trainerfrage durch geheimnisvolles Raunen zu einem großen Rätsel umzudeuten. Heute drischt die gleiche Zeitung, grob unsportlich wie Ribéry und Vidal halt auch so sind, auf die Konkurrenz ein: Das Niveau hinter den Bayern war noch nie so erbärmlich. Die Liga hatte noch nie so viele interessante und gute junge Trainer, taktische Konzepte und Spielideen. Die Berichterstattung war noch nie so unterwürfig, weil Bayern aus dem letzten Loch pfeift.

Ein Trauma? Echt jetzt?

Der kicker gibt heute unter der melodramatischen Überschrift Trauma Madrid: Rummenigge kritisiert UEFA jede Lebenslüge zum verdienten Ausscheiden im Viertelfinale der Champions League gegen Real im letzten Frühjahr eins zu eins und unkommentiert wieder. Manchester United 1958 und Chapecoense 2016 waren traumatisiert. Anlass hier ist die Entscheidung der UEFA, bis auf weiteres keinen Videobeweis in der CL einzuführen. Rummenigges Aussagen sind Stimmungsmache eines schlechten Verlierers, der kicker bläst das zum „Trauma“ auf. Der Vorstandsvorsitzende entblödet sich nicht, nach der Serie von Fehlentscheidungen, die den Bayern ihr 20-Punkte-Polster verschafft haben, zu behaupten: „Wenn ich ehrlich bin, bedaure ich das [die Entscheidung der UEFA], weil ich in der Bundesliga festgestellt habe, dass die Schiedsrichterentscheidungen, die jetzt getroffen werden, weitestgehend viel seriöser und auch fairer sind als das, was man in der Vergangenheit oft erlebt hat.“ Der kicker veröffentlicht das so, als sei er die Kundenzeitschrift des FCB, eine der Kundenzeitschriften.

Der SC Freiburg ist nicht Real Madrid, aber alles, was er am kommenden Sonntag braucht, ist eine konzentrierte Mannschaftsleistung, um die Liga wieder drei Punkte spannender zu machen. Und einen Schiedsrichter, der die gleichen Regeln für alle anwendet.

Sich einen runterhoolen – eine alte abendländische Tradition

Elf Anmerkungen zum bisherigen Verlauf der EM (Spiel 1 bis 10, ohne Gruppe F):

1.) Es noch gar nicht so lange her, da wurde hierzulande der Untergang des Abendlands beschworen, weil in deutschen Innenstädten Korane verteilt wurden. Die Reaktionen auf die völkervertrimmenden Krawalle in Frankreichs Innenstädten fallen im Verhältnis dazu reichlich verhalten aus. Ist halt alte abendländische Tradition, sich in überbordender Männlichkeit gegenseitig die Fresse zu polieren. Die russischen Hooligans haben sich vor Gericht ebenso in Luft aufgelöst wie einst die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Mit dem schlimmen Wort von der Lügenpresse hat das natürlich nichts zu tun, es handelt sich lediglich um bedauerliche Recherchefehler.

2.) Die Vorberichte im ZDF zum Eröffnungsspiel fielen dadurch auf, dass die Equipe Tricolor keinen Gegner hatte. Kein Wort über Rumänien, auch nicht über den Trainer Anghel Iordanescu, der  immerhin zweimal den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League gewann. Stattdessen tatsächlich bewegte Bilder vom WM-Halbfinale 1982 mit Marius Trésor, aber kein rumänischer Studiogast. Warum nicht Dorinel Munteanu, als Trainer mit Galati rumänischer Meister 2011? Ansonsten teilweise recht gute Spielberichte (Claudia Neumann) und auch eine sehr realistische Kommentierung der Leistung der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine (Gerd Gottlob). Selbst Tom Bartels war erträglich. Dazu noch ein O-Ton: Die Welt: Wie läuft eine Turniervorbereitung für Sie? Béla Réthy: Da gilt es, so viel wie möglich über die Teams zu recherchieren und wichtige Daten zusammenzutragen. Ich kann es kaum erwarten.

3.) Die Chance, als Gruppendritter weiter zu kommen, ermuntert die meisten Mannschaften, offensiver zu spielen. Man hat nicht den Wahnsinnsdruck, mit einer Auftaktniederlage gleich alles versaut zu haben. Ausnahmen wie Spanien 2010 bestätigen diese Regel. Bisher fallen die sogenannten Fußballzwerge in keinster Weise negativ auf. Es ist eben nicht die dritte, sondern die erweiterte zweite Reihe, die dabei ist: WM-Dritte wie Rumänien und die Türkei und große Fußball-Nationen, die in letzter Zeit wenig gerissen haben wie Ungarn, Tschechien und Portugal. Man weiß bis zum Schluß der Vorrunde nicht, gegen wen es geht. Hat Charme, dieser Modus.

4.) Das beste Spiel – bevor die Gruppe F an den Start ging – war Belgien gegen Italien, aber gleich danach kam für mich Wales gegen die Slowkei. Zwei gleichstarke Gegner, die alles probierten. Dazu der verdiente Sieger Wales, der in der Lage war, nach dem Ausgleich sehr schnell taktisch und spielerisch zu reagieren. Alle Spiele sind sehr fair, auch ein Zeichen dafür, wie viel besser das technische Niveau geworden ist.

5.) Die Engländer haben eine Mannschaft zum Liebhaben: Alli, Sterling und die anderen jungen Wilden sind mit heißem Herzen und spielerischer Leichtigkeit dabei. Aber mit dieser Chancenverwertung werden sie nicht weit kommen. Die ultimative Kränkung wäre es, wenn eine der anderen Mannschaften von den Inseln weiterkommt und die Three Lions nicht. Wales is waiting.

6.) Der Turnierstart der deutschen Mannschaft war besser als erwartet. Und dann auch noch zu Null, nach dem fröhlichen Scheibenschießen in den letzten zwei Jahren. Zu sehen gab es sehr viel Glück, einen sehr guten Neuer und schon ziemlich viele Ideen in der Offensive. Özil kommt in der allgemeinen Einschätzung zu schlecht weg. Er hat gerackert für drei und Schweinsteiger das 2-0 präzise aufgelegt. Nach all dem Hype um Odonkor wegen einer guten Flanke 2006 hat Özil mehr Respekt verdient. Ich hätte mir gewünscht, dass Boateng Kapitän ist, das wäre mal eine Ansage gewesen. Und Schweinsteiger hat immerhin schon Luft für sieben Minuten. Das läßt hoffen für die 1113. Minute in einem KO-Spiel.

7.) Eine seltsame Stimmung liegt über dem Turnier. Die EU steht möglicherweise vor ihrem Zerfall, mit zwei Teilnehmern – Türkei und Russland – gibt es massive Konflikte, allenthalben dräut und droht ein terroristischer Anschlag. Die Leute feiern, aber selten war es bei einem Turnier so deutlich zu spüren, dass Fußball eine Nebensache. Eine EM am Vorabend. Aber von was?

8.) Am besten trat neben den aus dem Nichts wieder erstarkten Italienern bisher Kroatien auf. Technisch überragend, in den Zweikämpfen giftig, aber nicht brutal, immer in der Lage, das Spiel zu machen. Und gespickt mit hervorragenden Einzelspielern: Srna, Mandzukic, Modric.

9.) Die Schiedsrichterleistungen sind bisher überwiegend gut. Bis auf den übersehenen Ellbogen von Giroud beim 1-0 gegen Rumänien gab es praktisch keine Fehlentscheidungen. Noch beeindruckender: Es scheint, die Schiedsrichter haben sich auf eine gemeinsame Linie geeinigt – wenige Karten, viel laufen lassen, sehr viel reden. Das gab es noch nie: Die Spielleiter verpassen einem Turnier ihre spielübergreifende Handschrift.

10.) Ibrahimovic hat den Ausgleich der Schweden erzwungen, aber ingesamt kommt es mir so vor, als sei das Modell 1 Superstar und 10 Wasserträger ein Auslaufmodell. Rooney ist ein mannschaftsdienlicher Kükenhirte geworden, Bale zerstreut erfolgreich seinen Kultstatus, Schland und Kroatien kommen ohne Superstar gut zurecht. Mal sehen, wie sich CR7 hineinfindet in seine Rolle als leader of the pack einer neuen Generation.

11.) Die Franzosen sind deutlich verbessert im Vergleich zu den letzten Turnieren. Sie tragen ihre Last der Erwartungen bisher mit mehr Esprit als die Brasilianer vor zwei Jahren. Aber Les Bleus werden ohne Zidane für mich immer unvollkommen sein. Wie ein Orchester ohne Violinen, ein Wald ohne Vögel, ein Essen ohne Gewürze. Trotz Lahm und Klose, Xavi und Iniesta, Buffon und Pirlo, bleibt Zizou die überragende Persönlichkeit der letzten 20 Jahre. Diese französische Mannschaft könnte aus seinem Schatten treten.

Die Hoeneß-Apologetik entdeckt die Volksgemeinschaft

Wenn ein Angehöriger der Oberen Zehntausend unter dem Verdacht steht, ein Betrüger zu sein, entdecken seine Apologeten die deutsche Volksgemeinschaft für sich. Das war bei Guttenberg so, das war bei Wulff so, das ist bei Hoeneß wieder so. Richard Herzinger schreibt am 27. Apeil auf welt.de, Hoeneß habe ein Verbrechen gegen die „kollektive deutsche Volksseele“ begangen. Und weil der Storch die Kinder bringt, findet Herzinger dannnicht nur Wut und Entrüstung, sondern auch selbstmitleidige Enttäuschung und nölende Beleidigtheit“, ferner die „tränenselige Anklagehaltung einer medial potenzierten Volksmeinung“. Diese werfe Hoeneß vor, seine Seele an den schnöden Mammon verraten zu haben. Die darin zum Ausdruck kommende Trennung zwischen „entfesselten angelsächsischen Raubtierkapitalisten“ und „’sozialverträglichen’, da vom Volksganzen an die Kette gelegten und zu dessen Gunsten ‚gemolkenen’ Unternehmertum“ sei eine bizarre Fiktion, die tiefe Wurzeln in der romantischen deutschen Volkstumsideologie habe.

Wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo die Volksgemeinschaft her. Die Beflissenheitspublizistik entsichert ihren Blut-und-Boden-Revolver, wenn es darum geht, rechtsfreie Räume für Menschen zu verteidigen, die sich gleicher wähnen als nur gleich vor dem Gesetz. Für Herzinger ist Steuerhinterziehung Privatsache: „Wer sich dabei erwischen lässt, hat Pech gehabt und muss, wie bei jeder Gesetzesübertretung, die rechtlichen Konsequenzen tragen.“ Deshalb sei zu dem „Fall Uli Hoeneß“ nichts mehr zu sagen.

Was aber, wenn der Privatmann Hoeneß sich vor den staatlichen Karren spannen lässt, um Gemeinschaftswerte zu propagieren? Im Sommer 2012 profilierte sich der erfolgreiche Wurstfabrikant als Juryvorsitzender für einen Fotowettbewerb auf der Website des bayerischen Innenministeriums, die für Engagement im Ehrenamt wirbt. Neben einem Foto von Hoeneß grußwortet es dort: „Liebe Ehrenamtliche, mit Ihrem Einsatz für unsere Gesellschaft sind Sie Vorbilder! Wir brauchen Menschen wie Sie, die ihre eigenen Interessen zurückstellen und sich für andere einsetzen.“ Hallöchen Volksgemeinschaft. Unsere Ehre heißt Amt, hätte Herzinger wohl bramarbasiert, wenn er diesen Mummenschanz vom ehrenwerten Unternehmer gekannt hätte.

Für Herzinger liefert Steuerhinterziehung, überhaupt der kontrollierte Rechtsbruch, auch einen demokratietheoretischen Mehrwert. Schummeleien gegenüber dem Staat wie die schwarz beschäftige polnische Altenpflegerin gehörten zu den Voraussetzungen für das Funktionieren eines freien Gemeinwesens. „In diesem Sinne ist jeder Steuerpflichtige, der ein geselliges Abendessen beim Finanzamt als Geschäftstermin ausgibt, ein wenig daran beteiligt, das für eine freie Gesellschaft unerlässliche Spannungsverhältnis zwischen staatlich definiertem Gemeinwohl und ungezähmtem Einzelinteresse zu erhalten.“

Auf, wackere Demokraten, lasst uns Altöl in den Wald kippen, um die Müllgebühr zu sparen. Lasst uns blau machen, wenn wir im öffentlichen Dienst beschäftigt sind. Lasst uns schwarz fahren und Hartz IV abzocken, aber bitte nicht mehr als Klaus Zumwinkel Steuern hinterzogen hat.

Weil die Sehnsucht nach anständigem Unternehmertum so tief in der deutschen Volksseele verankert ist, gibt es auch ein altes trutziges, deutsches Wort dafür. Es heißt Compliance und kommt von der Wall Street. Die liegt am Hudson River in einem altgermanischen Siedlungsgebiet. Ups, das war jetzt ein Recherchefehler. Compliance kommt aus der Muttersprache des angelsächsischen Raubtierkapitalismus und heißt Regeltreue: die Einhaltung von Gesetzen, Richtlinien und freiwilligen Kodizes. Herzilein, du musst nicht traurig sein. Compliance ist durch und durch transatlantisch, so westlich wertegemeinschaftlich wie freier Waffenbesitz und Angriffskriege. Es sind die USA, die seit Jahren Druck auf die Schweiz ausüben, um die Schwarzgeldökonomie dort still zu legen. Es sind us-amerikanische Politiker, die der Kongress stundenlang in die Mangel nimmt, bevor sie Minister werden. Die us-amerikanische Juristin Zoe Baird durfte vor zwanzig Jahren nicht Generalstaatsanwältin der USA werden, weil sie ein Kindermädchen und einen Chauffeur ohne Sozialabgaben beschäftigt hatte. Nicht aus Polen, sondern aus Peru. Sie musste 2900 Dollar Strafe zahlen. Zumwinkel zahlte eine Million Euro, an die Allgemeinheit übrigens, wie jeder, eine Geldstrafe zahlt. Der Freiheit eine Kasse.