Sich einen runterhoolen – eine alte abendländische Tradition

Elf Anmerkungen zum bisherigen Verlauf der EM (Spiel 1 bis 10, ohne Gruppe F):

1.) Es noch gar nicht so lange her, da wurde hierzulande der Untergang des Abendlands beschworen, weil in deutschen Innenstädten Korane verteilt wurden. Die Reaktionen auf die völkervertrimmenden Krawalle in Frankreichs Innenstädten fallen im Verhältnis dazu reichlich verhalten aus. Ist halt alte abendländische Tradition, sich in überbordender Männlichkeit gegenseitig die Fresse zu polieren. Die russischen Hooligans haben sich vor Gericht ebenso in Luft aufgelöst wie einst die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Mit dem schlimmen Wort von der Lügenpresse hat das natürlich nichts zu tun, es handelt sich lediglich um bedauerliche Recherchefehler.

2.) Die Vorberichte im ZDF zum Eröffnungsspiel fielen dadurch auf, dass die Equipe Tricolor keinen Gegner hatte. Kein Wort über Rumänien, auch nicht über den Trainer Anghel Iordanescu, der  immerhin zweimal den Europapokal der Landesmeister bzw. die Champions League gewann. Stattdessen tatsächlich bewegte Bilder vom WM-Halbfinale 1982 mit Marius Trésor, aber kein rumänischer Studiogast. Warum nicht Dorinel Munteanu, als Trainer mit Galati rumänischer Meister 2011? Ansonsten teilweise recht gute Spielberichte (Claudia Neumann) und auch eine sehr realistische Kommentierung der Leistung der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine (Gerd Gottlob). Selbst Tom Bartels war erträglich. Dazu noch ein O-Ton: Die Welt: Wie läuft eine Turniervorbereitung für Sie? Béla Réthy: Da gilt es, so viel wie möglich über die Teams zu recherchieren und wichtige Daten zusammenzutragen. Ich kann es kaum erwarten.

3.) Die Chance, als Gruppendritter weiter zu kommen, ermuntert die meisten Mannschaften, offensiver zu spielen. Man hat nicht den Wahnsinnsdruck, mit einer Auftaktniederlage gleich alles versaut zu haben. Ausnahmen wie Spanien 2010 bestätigen diese Regel. Bisher fallen die sogenannten Fußballzwerge in keinster Weise negativ auf. Es ist eben nicht die dritte, sondern die erweiterte zweite Reihe, die dabei ist: WM-Dritte wie Rumänien und die Türkei und große Fußball-Nationen, die in letzter Zeit wenig gerissen haben wie Ungarn, Tschechien und Portugal. Man weiß bis zum Schluß der Vorrunde nicht, gegen wen es geht. Hat Charme, dieser Modus.

4.) Das beste Spiel – bevor die Gruppe F an den Start ging – war Belgien gegen Italien, aber gleich danach kam für mich Wales gegen die Slowkei. Zwei gleichstarke Gegner, die alles probierten. Dazu der verdiente Sieger Wales, der in der Lage war, nach dem Ausgleich sehr schnell taktisch und spielerisch zu reagieren. Alle Spiele sind sehr fair, auch ein Zeichen dafür, wie viel besser das technische Niveau geworden ist.

5.) Die Engländer haben eine Mannschaft zum Liebhaben: Alli, Sterling und die anderen jungen Wilden sind mit heißem Herzen und spielerischer Leichtigkeit dabei. Aber mit dieser Chancenverwertung werden sie nicht weit kommen. Die ultimative Kränkung wäre es, wenn eine der anderen Mannschaften von den Inseln weiterkommt und die Three Lions nicht. Wales is waiting.

6.) Der Turnierstart der deutschen Mannschaft war besser als erwartet. Und dann auch noch zu Null, nach dem fröhlichen Scheibenschießen in den letzten zwei Jahren. Zu sehen gab es sehr viel Glück, einen sehr guten Neuer und schon ziemlich viele Ideen in der Offensive. Özil kommt in der allgemeinen Einschätzung zu schlecht weg. Er hat gerackert für drei und Schweinsteiger das 2-0 präzise aufgelegt. Nach all dem Hype um Odonkor wegen einer guten Flanke 2006 hat Özil mehr Respekt verdient. Ich hätte mir gewünscht, dass Boateng Kapitän ist, das wäre mal eine Ansage gewesen. Und Schweinsteiger hat immerhin schon Luft für sieben Minuten. Das läßt hoffen für die 1113. Minute in einem KO-Spiel.

7.) Eine seltsame Stimmung liegt über dem Turnier. Die EU steht möglicherweise vor ihrem Zerfall, mit zwei Teilnehmern – Türkei und Russland – gibt es massive Konflikte, allenthalben dräut und droht ein terroristischer Anschlag. Die Leute feiern, aber selten war es bei einem Turnier so deutlich zu spüren, dass Fußball eine Nebensache. Eine EM am Vorabend. Aber von was?

8.) Am besten trat neben den aus dem Nichts wieder erstarkten Italienern bisher Kroatien auf. Technisch überragend, in den Zweikämpfen giftig, aber nicht brutal, immer in der Lage, das Spiel zu machen. Und gespickt mit hervorragenden Einzelspielern: Srna, Mandzukic, Modric.

9.) Die Schiedsrichterleistungen sind bisher überwiegend gut. Bis auf den übersehenen Ellbogen von Giroud beim 1-0 gegen Rumänien gab es praktisch keine Fehlentscheidungen. Noch beeindruckender: Es scheint, die Schiedsrichter haben sich auf eine gemeinsame Linie geeinigt – wenige Karten, viel laufen lassen, sehr viel reden. Das gab es noch nie: Die Spielleiter verpassen einem Turnier ihre spielübergreifende Handschrift.

10.) Ibrahimovic hat den Ausgleich der Schweden erzwungen, aber ingesamt kommt es mir so vor, als sei das Modell 1 Superstar und 10 Wasserträger ein Auslaufmodell. Rooney ist ein mannschaftsdienlicher Kükenhirte geworden, Bale zerstreut erfolgreich seinen Kultstatus, Schland und Kroatien kommen ohne Superstar gut zurecht. Mal sehen, wie sich CR7 hineinfindet in seine Rolle als leader of the pack einer neuen Generation.

11.) Die Franzosen sind deutlich verbessert im Vergleich zu den letzten Turnieren. Sie tragen ihre Last der Erwartungen bisher mit mehr Esprit als die Brasilianer vor zwei Jahren. Aber Les Bleus werden ohne Zidane für mich immer unvollkommen sein. Wie ein Orchester ohne Violinen, ein Wald ohne Vögel, ein Essen ohne Gewürze. Trotz Lahm und Klose, Xavi und Iniesta, Buffon und Pirlo, bleibt Zizou die überragende Persönlichkeit der letzten 20 Jahre. Diese französische Mannschaft könnte aus seinem Schatten treten.

Das Drama des begabten Kindes

Mario Götze ist nicht der erste hoffnungsvolle deutsche Spieler, der mit einem Wechsel zum FC Bayern München seine Karriere ruiniert, auf Null abgebremst oder zumindest aus der Bahn gesteuert hat.  Jan Schlaudraff (Saison 2007-08 / 8 Bundesligaspiele / 150 Spielminuten), Alexander Baumjohann (2008-09 / 3 / 90), Mitchell Weiser (2012-15 / 16 / 914), Jan Kirchhoff (2013-14 / 7 / 82), Sebastian Rode (2014-16 / 38 / 1359) heißen die Opfer der letzten Jahre. Alle hatten vor ihrem Engagement bei Bayern eine tragende Rolle in ihren Vereinen oder dort sehr jung eine sehr gute Saison gespielt.

Keiner von ihnen würde zugeben, dass der Wechsel zum „Branchenprimus“ ein Fehler war. Zumeist murmeln die Kandidaten auf diese Frage meist mehr oder weniger verkniffen etwas davon, dass sie auf höchstem Niveau arbeiten durften und unglaublich viel dazu gelernt haben. Richtig ist, dass sie nach der langen Bankdrückerei nicht nur mit einer super-super-super Gesäßmuskulatur zu ihrem nächsten Arbeitgeber wechseln. Auch eine berufliche Perspektive als Gebietsleiter im Außendienst für diejenigen ergonomischen Sitzmöbel, die man so ausgiebig kennenlernen durfte, ist nach dem Ende der sportlichen Laufbahn für den langfristig planenden Profi von heute ein echter Zugewinn. Mitchell Weiser ist im zarten Alter von 22 Jahren immerhin schon dreifacher Deutscher Meister.

Bei Mario Götze ist alles ein bißchen anders. Als Siegtorschütze in einem WM-Finale ist er eine lebende Legende, kein hoffnungsvolles Talent. Ohne die Fähigkeiten der anderen hier Genannten zu schmälern ist es fair zu sagen, dass Götze mit außergewöhnlicher Begabung ausgestattet ist. Gleichzeitig ist Götze alles, bloß kein Star zum Anfassen. Ihn kann ich mir gut vorstellen, wie er frisch gefönt im weißen Tennispullover mit V-Ausschnitt aus dem Wellnessbereich des privaten Tennisclubs geschlendert kommt. Der Parkplatzboy fährt den Lamborghini vor, Götze drückt ihm 100 Euro in die Hand und sagt: Stimmt so. Das mag völlig falsch sein, genauso wie es falsch sein kann, dass Cristiano Ronaldo ein testosterongesteuerter Möchtegernmarshall ist, auch wenn er sich so hinstellt, wenn er einen Freistoß tritt. Götzes Tor gegen Argentinien ist jedenfalls paradigmatisch für seine Spielweise und die Spielweise der Nationalmannschaft, der er angehört. Helmut Rahns Schuß aus dem Hintergrund war der Glücks- und Verzweiflungsschuß der kriegsgeprägten Generation der fünfziger Jahre. Der ehrliche Malocher, Sohn eines Bergmanns, Kind des Ruhrgebiets und des Wirtschaftswunders, haute ihn irgendwie rein, so wie man in den Jahren davor irgendwie über die Runden gekommen war. Gerd Müllers Tor gegen Holland verdichtet die siebziger Jahre in einem Augenblick: Popo raus, irgendwie im Liegen, Vorlage von Bonhof, einem Gladbacher. Das alles unter dem Dach dieses atemberaubenden Stadions, das ein so wirkungsmächtiger Gegenentwurf zu jeder Art von Großmannssucht war.  Andy Brehme steht für den Stil der Ära Matthäus: Spielfreude durch Kraftmeierei. Loddar, Ruuudi und die anderen waren keine Rumpler, vor allem nicht bei der WM 1990. Aber vielleicht doch eher Atlético als Real, eher Hansdampf als filigran. Und 2014 dann Götze, dessen Vater kein Bergmann ist, sondern als Professor im modernisierten Ruhrgebiet irgendwas mit Medien macht. Bei seinem Kabinettstückchen in Rio machte Mario Götze nicht nur alles richtig, sondern auch bezaubernd schön. Außer Maradona fällt mir keiner ein, der in so einem Spiel so ein Tor hätte schießen können.

Wirklich schade, dass dieser Götze (2012-16 / 114 / 7377) bei Bayern nur eine Randfigur ist. Oder war das gewollt? Ist Götze auf der Bank für Bayern wertvoller als bei Dortmund in der Startelf? Im Wirtschaftsleben ist diese Strategie nichts besonderes. Ständig werden Patente aufgekauft, damit sie von der Konkurrenz nicht kommerziell verwertet werden können. Warum nicht also aus einer funktionierenden Mannschaft das Ausnahmetalent herauslösen, um es bestens dotiert als Randfigur versauern zu lassen? Bayern kann für einen Spieler, den man nicht braucht und den man nicht will, mehr Geld ausgeben als andere Vereine für ihren gesamten Kader. Matthias Sammer formulierte das Selbstverständnis der Bayern im Februar 2015 so: „Wir kommen jetzt in die ganz heiße Saisonphase, das muss uns bewusst sein, da müssen wir den Maschinenmodus und nicht den Gefühlsmodus anwerfen. […] Jetzt zählt kein Gefühl, wir müssen gnadenlos gierig sein und wieder in diesen gnadenlosen Rhythmus kommen.“ Auch wenn Sammer ernsthaft erkrankt ist und ich ihm baldige Genesung wünsche, bin ich froh, dass derartig unmenschliche Formulierungen seltener zu hören sind, seit er bei Bayern nicht mehr in der ersten Reihe steht.

Selbst schuld, könnte man zu Götze jetzt sagen, er ist ja nicht verschleppt worden. Er wollte zu den Bayern, genau wie Baumjohann, Weiser, Rode und die anderen. Aber ganz langsam zeigen die Spieler der neuen Generation, dass sie es nicht als den Höhepunkt ihrer Laufbahn empfinden, bei München außen vor zu sein. Auch auf dem Branchenprimuskocher wird nur mit Wasser gekocht. Gianluca Gaudino (2014-15 / 8 / 373) wurde 2015 in die super-super-super Regionalliga degradiert und ließ sich Anfang 2016 für eineinhalb Spielzeiten nach St. Gallen ausleihen. Pierre Emil Højbjerg war schon zweimal ausgeliehen und will endgültig weg, genau wie Rode, der es aus dem Kreise der oben genannten Teilzeitprofis immerhin auf eine vierstellige Minutenzahl in zwei Spielzeiten brachte. Vereinstreue wird schnell als Anachronismus denunziert, ein Korb für einen größeren Verein als mangelnder Ehrgeiz. Benedikt Höwedes, der nicht schon dreimal Deutscher Meister war, bezeichnet sich im kicker-Interview am Donnerstag als „ein bißchen Fußballromantiker“, weil er den für ihn optimalen Bedingungen auf Schalke den Vorzug gibt vor als beispielsweise einer lieblos abgenudelten Meisterfeier mit lauwarmen Bier auf einem viel zu engen Balkon.  Dabei sollte man als Spieler doch vor allem eins wollen: spielen.

Götzes Rückkehr zu Dortmund ist ein Ding der Unmöglichkeit – die erdige Fankultur in Lüdenscheid mag keine global player, die überall zuhause sind. Also soll Götze jetzt aus München abserviert werden, möglichst so, dass er keine allzu große Delle in der Transferbilanz hinterläßt. Um so erfreulicher, dass Götze darauf offenbar keine Lust hat und dabei auch noch Unterstützung von Joachim Löw erfährt. Der FC Bayern inszeniert sich gerne als große Familie, in der Causa Götze erinnert er an eine Rockerdisco mit Kim Il McRummenigge als Rausschmeißer. Wenn Götze so dringend gehen soll, warum nicht ablösefrei? Dortmund drei Jahre lang zu schwächen, das sollte doch 35 Millionen wert gewesen sein.

Und täglich grüßt die Extrawurst

17. Mai 2006 Champions League Finale zwischen Arsenal und Barcelona. In der 18. Minute foult Arsenals Torhüter Jens Lehmann den durchgebrochene Eto’o und sieht Rot. Arsenal verliert ein grandioses Endspiel mit 2-1. Knapp zwei Monate später WM-Endspiel in Berlin. Nach einem Kopfstoß gegen den Italiener Materazzi sieht Zinedine Zidane in der 110. Minute Rot. Frankreich verliert im Elfmeterschießen.

Auch wenn es die Vorstellungskraft der meisten Bundesliga-Schiedsrichter überschreitet: Es ist möglich und dem Spiel sogar förderlich, Regelverstöße von allen Spielern zu bestrafen, egal, ob sie in vermeintlich großen oder kleinen Mannschaften spielen. Die Welt geht nicht unter, wenn es Chancengleichheit gibt zwischen Favoriten und Außenseitern. Warum also ist es nicht möglich, Spiele des FC Bayern regelkonform zu leiten und stattdessen das Team aus München in penetranter Weise zu bevorzugen und die gegnerische Mannschaft zu benachteiligen? Und warum wird diese gängige Praxis von den meisten Sportjournalisten devot oder achselzuckend zur Kenntnis genommen?

Jeder im Stadion in Leverkusen hat gestern Abend gesehen, dass Thiago zwingend hätte Rot sehen müssen. Jeder im Stadion hat am vergangenen Samstag in Dortmund gesehen, dass Xabi Alsonso in der 88. Minute ein Foul an Aubameyang beging, indem er ihm auf den Fuß trat. Das hatte er im Spiel vorher schon dreimal gemacht, weil er läuferische Defizite hat. Jeder im Stadion formerly known as Volkspark hat am 4. Spieltag gesehen, dass Neuer einen Konterversuch in der Nachspielzeit per Handspiel an der Mittellinue unterband und Gelb anstatt Rot sah. Jeder im Berliner Olympiastadion hat am 17. Mai 2014 gesehen, dass Mats Hummels in der 65. Minute ein reguläres Tor für Dortmund im Pokalfinale gegen die Bayern erzielte.

Tom Bartels, der Erste Bayern-Schwadroneur der ARD*, wußte gestern zu vermelden, dass noch nie eine Mannschaft dreimal hintereinander Pokalsieger geworden ist. Es gibt auch keine andere Mannschaft, die in engen, in kritischen Spielen in nationalen Wettbewerben von den Schiedsrichtern so zuvorkommend bedient wird wie die Bayern. Das gleicht sich im Lauf der Saison nicht aus, das ist ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil, der die psychologische Ausgangssituation der Bayern gegenüber allen anderen Wettbewerbern drastisch verbessert, will sagen, den Wettbewerb systematisch verzerrt. Im Großen wie im Kleinen. Nehmen wir den 2. Spieltag der Saison 2010/11. Am ersten Spieltag verlieren die Bayern zuhause gegen Gladbach nach Fehler von Neuer. Der Torwart aus Schalke hat einen nennenswerten Teil der Fangemeinde gegen sich, nach seinem Patzer ist der Unmut größer geworden. Auch gegen Wolfsburg patzt er in der 39. Minute. Der reguläre Treffer von Helmes wird aber nicht anerkannt, warum, weiß keiner.  Bayern gewinnt durch ein Tor von Luiz Gustavo in der letzten Minute mit 1-0, und Neuer kriegt die Kurve. Es sind diese kleinen Extras, diese Mischung aus Nachsicht, Servilität und Regelblindheit, die am 27. Spieltag zehn Punkte Vorsprung bedeuten können, oder den erfolgreichen Einbau eines  Schlüsselspielers zu Beginn der Saison. Neuer hätte auch scheiten können, so wie Hildebrand in Valencia oder Özil bei Real Madrid. Das ist sein Berufsrisiko, das ein Schiedsrichter nicht zu mindern braucht. Genau wie es das Risiko der Vereinsführung ist, einen Transfer zu vergeigen.

Luiz Gustavo, der Siegtorschütze gegen Wolfsburg, ist ein schönes Beispiel dafür, wie gut es sich leben läßt im Bayern-Kokon. Der Brasilianer stieg 2008 mit Hoffenheim in die Bundesliga auf. In 82 Spielen für Hoffenheim sah er einmal Rot und viermal Gelb-Rot. Auch für einen defensiven Mittelfeldspieler eine äußerst rustikale Bilanz. Am 1. Januar 2011, in der Winterpause, wechselte Gustavo zu den Bayern. In den 67 Spielen dort sah er weder Rot noch Gelb-Rot. Zur Saison 2013/14 wechselte er nach Wolfsburg und sah in 29 Spielen dreimal Gelb-Rot. In den 26 Spielen der laufenden Saison ist er ohne Rot und Gelb-Rot ausgekommen. Ein Jahr lang hat Dieter Hecking gebraucht, um dem Ex-Bayern-Spieler beizubringen, dass für ihn jetzt Regeln gelten, um die er sich im roten Trikot nicht zu kümmern brauchte. Es ist nicht die superbe Technik, die man im Training an der Säbener Straße beigebracht bekommt, nicht das Bayern-Gen, die Bierruhe, das Mia san Mia, es ist die speziell für die Bayern geschaffene Komfortzone, die es für die anderen Vereine im Profifußball nicht gibt, die aus dem Risikofaktor Luiz Gustavo eine verläßliche Größe machte.

Wer sich sicher sein kann, dass er sich in Zweikämpfen die eine oder andere Grobheit mehr rausnehmen kann, wer weiß, dass für ihn spezielle Privilegien gelten, wer es gewohnt ist, dass ihm regelmäßig kleine Aufmerksamkeiten zuteil werden, der tritt auch entsprechend auf. Es gibt keinen anderen Verein, in dem ein Spieler, der wie Ribéry pünktlich wie ein Quartalssäufer zur Flasche zum Revanchefoul greifen würde, jedesmal ungeschoren davon käme. Der „emotionale Typ“, der wenigstens schon vier mal glatt Rot hätte sehen müssen, weiß, warum es bei den Bayern so schön ist. In keiner anderen großen europäischen Liga würde man ihm diese regelmäßigen Ausraster durchgehen lassen. Ich bin kein Fan von Cristiano Ronaldo, aber zum Fußballer Europas fehlt Ribéry tatsächlich das Format. Dass er ein guter Tempodribbler ist, steht außer Frage, aber wenn man Zidane vom Platz stellen kann, dann auch Ribéry. Und Thiago. Und Neuer. Ohne großes Tamtam einfach mal die Regeln anwenden.

Denn wenn es nach den Regeln geht, tun sich die Bayern schwerer, als es ihnen und ihren Claqueuren lieb sein kann, dann ist von der vermeintlichen Überlegenheit nichts zu sehen. Botaeng sieht Rot, Schalke punktet in München. Tobias Welz liefert keine überragende, aber fehlerfreie Leistung zu Beginn der Rückrunde ab, Bayern verliert 4-1 gegen Wolfsburg. Peter Gagelmann kriegt im kicker die Note 2, Dortmund vernascht Bayern im Pokalendspiel mit 5-2.  Auf internationalem Parkett das gleiche Bild. Der portugiesische Schiedsrichter Pedro Proenca beim Finale dahoam war ordentlich, aber nicht überragend, ebenso wie Howard Webb beim 0-1 im Halbfinale gegen Real vor knapp einem Jahr. Man muss keine Sternstunde haben als Schiedsrichter, man muss nicht über sich hinaus wachsen, um ein Spiel der Bayern ohne krasse Fehlentscheidung zu ihren Gunsten zu leiten. Man braucht Courage und den Willen, genau hinzuschauen, mehr nicht. Dann ist man in der Lage, das Undenkbare zu tun, und die Bayern nach den gleichen Regeln zu behandeln, die für den Rest der Liga gelten.

Dass die Bayern verläßlich ihre Extrawurst serviert bekommen, liegt auch am Umgang vieler Journalisten mit dieser Vorzugsbehandlung. Außer Günter Netzer (bei Länderspielen) gibt es keinen relevanten Experten, der nicht ein ehemaliger Bayern-Spieler ist, so sehr ich Stefan Schnoor auch schätze. Kahn, Scholl, Hamann, Matthäus, Beckenbauer, Effenberg, Helmer – für ein Land, das so reich gesegnet ist mit redseligen Ex-Profis, eine erstaunlich einseitige Auswahl. Ich war hocherfreut, als Erik Meijer neulich bei Sky auftauchte. Vielleicht ist es diese geballte Bayern-Präsenz, die es für Tom Bartels (und andere) unmöglich macht, einen einfachen Sachverhalt korrekt wiederzugeben. Bei einem Kopfballduell schlug Dante gestern seinem Gegenspieler, ich glaube, es war Spahic, ins Gesicht. Ob es eine Tätlichkeit war oder eine Versehen, ist unklar, aber es war ein Schlag ins Gesicht. Bartels beschreibt die Szene so: „Da hat sich der Leverkusener im Zweikampf mit Dante weh getan.“ Weh getan? Warum so schüchtern? Ist es Majestätsbeleidigung, einen Schlag ins Gesicht als solchen zu bezeichnen? Spieler machen Fehler, pausenlos. Nicht nur das. Spieler – das ist nicht unwesentlich für die Idee der Chancengleichheit – werden von ihren Gegenspielern zu Fehlern gezwungen. Handlungsschnelligkeit, Ballsicherheit und Matchplan führen zu Abspielfehlern, Stellungsfehlern und Fouls. Und diese Fehler nutzt man aus. Weil man gewinnen will. Xabi Alonso kommt zu spät gegen Aubameyang, es gibt Elfmeter für Dortmund. Thiago fehlt in seinem zweiten Spiel nach einem Jahr Pause die Kondition, Bayern muss 40 Minuten in Unterzahl spielen. Diese Fehler sollte man als Kommentator einfach mal benennen und nicht wie Bartels in eine reflexhafte Rechtfertigungslitanei verfallen, wann immer ein Bayern-Spieler einen Fehler macht. Dann spricht sich das eventuell bis zu den Schiedsrichtern herum, und dann, vielleicht, wird das Premiumprodukt Bundesliga kein mehrstimmiges Bayernweihfestspiel mehr, sondern ein sportlicher Wettkampf mit offenem Ausgang.

*nicht des ZDF [korrigiert 2015-04-09, 12.14 Uhr]