Chronisch überschätzt: Die Defensive

Eine alte Regel besagt, der Trainer müsse die Taktik nach den Spielern ausrichten. Dazu ein Vorschlag zur Güte. Jogi Löw läßt Hummels, Mertesacker, Boateng, Khedira, Jansen, Westermann, Höwedes, Großkreutz, Schmelzer und die Bender-Zwillinge alle zu Hause.

Die Viererkette besteht in der Innenverteidigung aus Schweinsteiger und Kroos, die zusammen 200% aller Zweikämpfe gewinnen. Wahlweise kann für Kroos kann dort auch der kopfballstarke und lauffreudige Klose spielen. Links hinten der wieselige und wuselige Götze, der noch eine etwas bessere Konstitution braucht, aber über außen jede Menge Druck entfalten wird. Rechts hinten Thomas Müller. Für den diplomierten Raumsucher dürfte das Erlernen der Raumdeckung keine größere Schwierigkeit darstellen. Außerdem holt er sich seit eh und je die Bälle von hinten, wird also auch am eigenen Strafraum nicht fremdeln.

Die Doppelsechs spielen Gündogan und Podolski, wobei Gündogan den eher defensiven Part übernimmt und Podolski seine gute Schußtechnik für Tore aus der zweiten Reihe nutzen kann.

Die offensive Dreiherreihe besteht aus Draxler, Özil und Sam, davor spielt Kießling.

Hab ich jemand vergessen? Ja,richtig, im Tor spielt Lahm. Lahm kann alles spielen.

Brazil, wir kommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Saisonziel erreicht

Dieter Hecking hatte sich zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 2012 für seinen großen Karrieresprung Nach Vorne in Richtung Wolfsburg entschieden. Da gab es am 24.12. mit meiner fußballsachverständigen Tante unterm Strohstern vom Christkindlesmarkt dringenden Gesprächsbedarf. Trainer Wiesinger? Könnte passen. Plötzliches Abstiegsdrama? Nein, es gibt ja Fürth und immer zwei andere, die schlechter sind. Europaleague? Kommt für diese Mannschaft noch zu früh, besser gleich auf Platz 3 landen. Saisonziel? Schnell die 40 Punkte holen. Zusatzziel? Vor Wolfsburg stehen am Ende.

Mit dem schönen Schlußspurt gegen Bremen gelang nicht nur mal wieder ein Heimsieg gegen  die Hanseaten, dank des Eigentors des Wolfsburgers Rodriguez in der letzten Minute hüpfte der Club noch auf Platz 10 und holte mit 44 Punkten einen Punkt mehr als Heckings Europacupaspiranten. 44 Punkte, das sind zwei mehr als in der Vorsaison, in der es auch Platz 10 gab.

Seit der kernigen Aussage von Aufsichtsratsmitglied Klaus Schramm, „…mit der jetzigen Mannschaft kommt man nicht weiter…“  frage ich mich welches „weiter“ dem Herrn Schramm denn so vorschwebt. Vor einem Jahr habe ich nach einer negativen Heimbilanz (6-4-7) mit 22 Punkten gesagt, dass müsste besser werden. Damals stand der Club in der Heimtabelle auf Platz 13. Jetzt steht er mit sieben Siegen, sechs Unentschieden und vier Niederlagen auf Platz 9. Bei diesen sechs Untentschieden gehören die beiden 1-1 gegen Bayern und Dortmund zu den sportlichen Glanzlichtern der abgelaufenen Spielrunde. Aber um gegen Augsburg, den HSV, Freiburg und Hannover 96 zu gewinnen braucht es keine neuen Spieler. Es braucht die Zielstrebigkeit, die gegen stärkere Gegner wie Mainz und Schalke zu drei Punkten führte und die Courage, die gegen Düsseldorf und Bremen die letzten beiden Spiele drehen half. Mit diesen acht Punkten mehr hätte man 52 Punkte und stünde vor Freiburg und Frankfurt auf Platz 5. Siebzehn Heimsiege wären übrigens auch schon 51 Punkte. Klar, das ist Kaffeesatzleserei, aber bevor der Vorstand den frisch entschuldeten Verein wieder in die Miesen stürzt, lieber eine Hochrechnung mehr.

Die Abwehr, sechstbeste in der Liga, ist ein echtes Sahnestück. Ähnlich wie Dortmund (Subotic, Hummels, Santana) ist der Club in einer komfortablen Lage und verfügt über drei gleichwertige Innenverteidiger (Klose, Nilsson, Simons). Die Offensive läßt mit 39 Toren ein wenig zu wünschen übrig. Das ist der fünftschlechteste Wert, zehn Tore haben Abwehrspieler erzielt. Aber Freiburg wäre mit 45 Toren fast in die Qualifikation zur Champions League gekommen. Plattenhardt, Pekhart und Mak, das könnte eine ähnlich geile Combo werden wie Saenko, Schroth und Vittek. Plattenhardt schlägt Flanken wie der junge Pander, „der fliegende Robert“ Mak lernt allmählich seinen Kopf zu gebrauchen, und Pekhart ist ein Glücksgriff. Wiederhole: Glücksgriff.

Wenn, ja wenn die Götze-Millionen nicht eine Kettenreaktion in Gang setzen. Dann sind Kyiotake (meiste Assists mit ruhenden Bällen in der Liga), Nilsson (torgefährlichster Abwehrspieler der Liga) und Esswein (pfeilschnellster Linksaußen der…naja, fast jedenfalls) plötzlich weg, und der Club kann mit mehr Geld um sich werfen, als Herrn Schramm lieb ist. Im Zweifel werden wir auch in einem Jahr im gesicherten Mittelfeld stehen – und selbstverständlich wenigstens einen Platz vor Hecking, wohin ihn das Karrieresprungbrett auch katapultiert haben mag.

Das heimliche Endspiel

Gegen Italien, das wird ein heimliches Endspiel. Gegen Spanien und Portugal gab es schmerzhafte Niederlagen in der letzten Zeit, aber die Rivalität mit Italien geht bis 1970 zurück. Sieben Weltmeistertitel stinken am Donnerstag gegeneinander an. Ein Kreis schließt sich. 2006 hatte der Hurra-Fußball von Klinsis Rasselbande bereits im Viertelfinale gegen Argentinien seine Grenzen erreicht. Wenn Pekerman offensiv statt defensiv gewechselt hätte, hätte es da schon vorbei sein können. Ohne Riquelme landete Argentinien ins Elfmeterschießen, und wir alle wissen, was da passiert, wenn es nicht gerade gegen die Tschechoslowakei geht.

Gegen Italien war dann zurecht Ende Gelände für Schland. Es gab ein mutiges und herzhaftes Anrennen, irgendwann war der Stier müde und Torero Grosso setzte den entscheidenden Stich. Ähnlich taktisch ratlos ging die Sache 2008 und 2010 gegen Spanien aus. Und keiner war so richtig böse, weil das Zwischenziel: Nie mehr Rumpelfußball, längst erreicht war.

Es ist kein Zufall, dass vier Teams aus den Gruppen B und C im Halbfinale stehen. Das waren die spielstärksten Gruppen, wobei ich B noch für etwas ausgeglichener halte. Diesmal gab es kein Sommermärchen, sondern Lernerfolge zu bewundern. Das deutsche Team ist noch längst nicht am Limit, es ist taktisch reifer geworden. Die Leistungskurve zeigt nach oben. Mit Khedira, Özil, Hummels, Lahm, Neuer und Klose gibt es gleich sechs Spieler, die Weltklasse darstellen, nicht nur Ballack und Lehmann wie 2006.  Wer Gomez, Müller und Podolski auf die Bank setzt, wer es sich leisten kann, einen schwerfällig  schwächelnden Schweinsteiger* durchzuschleppen, der hat tatsächlich den besten Kader des Turniers. Ich finde, Kroos hätte eine Chance verdient. Er hat eine sehr gute Saison gespielt, kann gut aus der zweiten Reihe schießen und hat eine geringe Fehlpassquote. Oder Löw setzt auf totale Offensive. Die Abwehr wie immer, davor Podolski und Khedira, davor Reus, Özil, Müller, ganz vorne Klose. Podolski kann auch einen Achter spielen, er hat ja als hängender Zehner angefangen. Reus und er können links rochieren, Müller und Özil rechts. Müller hat immense Steherqualitäten, ist zweikampfstark und wird irgendwann im Lauf des Turniers auch wieder Glück haben. Voll auf Offensive hat mehr Erfolgsaussichten, als sich auf ein defensives Abnutzungsgeplänkel einzulassen. Klose kennt sich mit italienischen Abwehrreihen aus. Sechs Offensivkräfte, die geschickt rotieren, müssen die Italiener erst einmal in den Griff kriegen.

Und die Italiener? In dem grandiosen Film When We Were Kings über den Rumble in the Jungle Foreman gegen Ali sagt der Schauspieler Malick Bowens über Alis Strategie vollkommener Passivität in den ersten sechs Runden: „Muhammad Ali, he was like a sleeping elephant. You can do whatever you want around a sleeping elephant; whatever you want. But when he wakes up, he tramples everything.“ Italien hat das auch, diese aufreizende Passivität in großen Turnieren. Eigentlich sind sie sich zu fein für die Vorrunde. Es sei denn, es geht im ersten Spiel gegen Spanien. Dann sind die von Minute eins an voll da und bieten aus dem Stand eines der besten Spiele des Turniers. Gerne gehen sie im Vorfeld mit ihrem verrotteten Calcio ein wenig hausieren. Es erhöht das Überraschungsmoment. Alle denken, Italien sei am Ende. Seit 2500 Jahren denken alle, Italien sei so gut wie am Ende. Tolle Spieler haben sie auch: Buffon und Pirlo, Balotelli in his own sweet fucked-up little way. Und Italiener trampeln natürlich auch nicht. Wenn sie wollen, kommen sie 120 Minuten ohne Foul aus. Ihre Gegner erledigen sie ähnlich formvollendet wie ein venezianischer Kellner seine Gäste aus Texas oder Wanne-Eickel.

Einmal hat eine deutsche Mannschaft Italien aus dem Turnier gekegelt, 1996 in der Vorrunde. Köpke war damals bester Torwart der Welt, hielt einen Elfmeter und vereitelte ungefähr dreißig italienische Großchancen. 0-0 ging es aus, Italien fuhr mit dem italienischsten aller Ergebnisse nach Hause.

Aber gegen Italien in Normalform spielen ist wie mit einem Alligator ringen. Es ist immer brandgefährlich. Und es wird ein großes, ein unvergeßliches Spiel werden. Wie 2006, nur anders.

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