Eine wieder einmal grimmig entschlossene Mannschaftsleistung bringt Holland ins Endspiel. Das Abseitstor wäre für mich kein Grund, technische Hilfsmittel zu Rate zu ziehen. Wenn man drei Zeitlupen aus drei verschiedenen Winkeln braucht, reicht die einfache Regel: im Zweifel für den Angreifer. Holland erst mit einem Tor aus dem Nichts, dann mit einem Doppelschlag. Uruguays Torwart sah bei allen drei Toren schlecht aus. Robben rennt zwar wieder schnell, spielt im Moment aber ziemlich einfallslos. Trotzdem ein bisher sehr gutes Turnier der Oranje, die sich eine große Dosis deutscher Sachlichkeit einverleibt haben. Beeindruckend sind die Tempowechsel. Vor dem 2-1 drehten sie ein paar Minuten lang kurz auf, spielten schnell und direkt, und Uruguay kam sofort ins Schwanken. Bei Uruguay war Forlan wieder stark, stand und rannte ohne Suarez allerdings allein auf weiter Flur. Als Holland zuletzt im Endspiel stand, war van Bommel ein Jahr alt und die goldene Generation (in Argentinien ohne Cruyff) scheiterte zum zweiten Mal hintereinander am Gastgeber. Heute Abend wird sich heraus stellen, ob es ein Rückspiel für 1974 oder einen nagelneuen Weltmeister geben wird.
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Favorit Holland
Meister wird, wer Rückstände aufholt, Weltmeister vielleicht auch. Obwohl das Halbfinale vom Mittwoch die größeren Namen bietet, sind die heutigen Kontrahenten bisher die besseren Turniermannschaften. Wer binnen 15 Minuten einen Rückstand gegen Brasilien dreht, ist ein sehr ernst zu nehmender Titelkandidat. Wer nach einem Herzschlagfinale in der Verlängerung sein Elfmeterschießen mit der Herzenskühle einer römischen Gruft absolviert, gleichfalls. Holland hat das bessere Team, aber vielleicht wird Forlan der Maradona 2010, der Spieler, der den Unterschied macht. Am Mittwoch treffen zwei Mannschaften aufeinander, die sich an einem 0-1 in der Vorrunde beide die Zähne ausbissen. Und darin sehe ich auch die große Gefahr für Jogis Fohlenelf: Ihre beiden K.O.-Spiele konnten sie mit einer frühen Führung im Rücken gut herunterspielen. Aber letztendlich waren das 3-1 und das 4-1 gegen England sowie 3-0 und 4-0 gegen Argentinien (gut zu Ende gespielte) Konter. Der Gegner musste aufmachen. Gegen Ghana war es ein schön gezirkelter Schuß Özils, nicht so sehr die ausgeklügelte Spielanlage. Läuferisch sind die Spanier mindestens ebenbürtig, Casillas würde ich trotz seiner durchwachsenen Saison immer noch ein bißchen stärker als Neuer einschätzen. Nehmen wir an, die Spanier gehen wie die Serben in der 38. Minute in Führung. Können die Deutschen ein Spiel dann auch wirklich machen? Die Holländer konnten es auf bravouröse Art und Weise und sind jetzt der ernsthafteste Anwärter auf den Titel. Mit Leuten wie van Bommel und Robben können sie selbst einem Elfmeterschießen gewachsen sein.
God’s Loneliest Man
Was für ein tragisches Ende. Als Asamoah Gyan den Elfmeter gestern an die Latte donnerte, kollabierte die großartige Mannschaft Ghanas binnen Minuten. Bereits aus dem Spiel heraus hatten sie in der letzten Minute zwei tausendprozentige Chancen gehabt. Das Elfmeterschießen war ein schlechter Witz. Die Ghanaer, einschließlich ihres Torhüters Kingson, sahen aus, als wäre es das erste Elfmeterschießen ihres Lebens. Zwei kreisklassenmäßig schlecht geschossene Elfer, ein haltbarer von Uruguay, der nicht gehalten wurde, aus war’s. Und Gyan war untröstlich, nicht zu beruhigen. Trotzdem: es war ein riesiger Schritt nach vorne. Ghana ist eines der wenigen Länder Afrikas, die eine tragfähige, nachhaltige Fußballkultur aufgebaut haben. Weder die U-20-Weltmeisterschaft noch der zweite Platz beim Afrika-Cup waren ein Zufall. Die Mannschaft ist relativ jung, sie wird ihre nächste große Chance bekommen, wobei Uruguay ein dankbarer Gegner war, wenn man die anderen Viertelfinalspiele vergleicht.
Soll man Suarez kritisieren? Was würde ein Kreisklassespieler in dieser Situation machen? Denkt man überhaupt noch, wenn man den Ball aus vier Metern Entfernung aufs eigene Tor zufliegen sieht? Verdient wäre es gewesen, wenn Ghana weitergekommen wäre, unverdient ist die Halbfinalteilnahme von Uruguay trotzdem nicht. Und Forlan ist neben Özil und Tevez eine der ganz großen Bereicherungen des Turniers. Und diese Hymne…1845 komponiert von dem in (Österreich-)Ungarn geborenen Oboeisten Francisco José Debali ist sie ein echtes musikalisches Schmuckstückchen. Close your eyes and think of Verdi, dessen Oper Giovanna d’Arco nach Schillers Tragödie im gleichen Jahr Premiere hatte.
Ganz nebenbei bemerkt hatten die Holländer gestern den großen Tag, den sie brauchten. Der ARD-Weltweise erklärte statistikgesättigt, Brasilien habe seit 1950 keine Halbzeitführung mehr verspielt. Dieses 2-1 hat alle Aussgen der Holländer über ihren Teamgeist bestätigt. Anders als das 4-0 1974, als die überalterten Brasilianer überrannt wurden, war das eine zielgerichtete sportliche Meisterleistung gegen einen gleichwertigen Gegner, vergleichbar vielleicht dem 2-1 der Franzosen gegen Portugal im Halbfinale der EM 2000, als sie dort auch den Rückstand drehten. Obwohl das EM-Spiel noch eine Klasse besser war. Holland hatte das Glück des frühen Ausgleichs, den ich nicht als Eigentor werten würde, danach gewannen sie alle entscheidenen Zweikämpfe, bewiesen die vielzitierte „Handlungsschnelligkeit“. Auch wenn das 2-1 nach einem Standard fiel, sie waren zum Schluß spielerisch besser. Brasilien hat jetzt vier Jahre Zeit, eine neue, alte Philosophie zu entwickeln. Für mich ist die Diskussion in Brasilien, die hier immer kolportiert wird, einigermaßen schleierhaft. Sollen sie um jeden Preis gewinnen? Das war 1994 nach der langen Durststrecke wohl ganz entscheidend. Oder sollen sie schön, schöner am schönsten spielen? Dann wäre eine Corporate Identity wie bei Barcelona angesagt: Nur schön gewinnen zählt. Nachdem das Modell Dunga nichts gefruchtet hat, könnte man ja vielleicht alle Bedenken fallen lassen, und die Welt 2014 mit einer Zauber-WM beschenken, anstatt dem sechsten Titel hinterher zu hecheln.